Paris vor den Olympischen Spielen: Nörgeln wird olympisch
Die Sommerspiele bringen für die Bewohner von Paris etliche Zumutungen mit sich. Die Missstimmung ist deshalb immens groß.
Zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele putzt sich Paris heraus. Das Wasser der Seine soll zum Baden locken… oder wenigstens gerade sauber genug sein, damit die Sportschwimmer des Triathlons sich im August keine Hauterkrankungen und Infektionen holen. Obdachlose, die nicht ins retuschierte Bild passen, werden seit Wochen in die Provinz „delokalisiert“. Die Sportstadien sind rechtzeitig – dank Hunderten von Sans-Papiers (illegalen Einwanderern) – für die Wettkämpfe gebaut oder renoviert worden.
Im Olympia-Dorf am nördlichen Stadtrand bei Saint-Denis beziehen die ersten Sportler ihre Zimmer, zu Füßen des Eiffelturms, auf dem Concorde-Platz und der Esplanade des Invalidendoms sind die Tribünen für das Publikum installiert. Die omnipräsente Polizei sperrt Straßen und ganze Quartiere und kontrolliert die Autos. Ständig und oft in die Nacht heulen die Sirenen der Patrouillenfahrzeuge, das Olympiafieber steigt.
Die Geschäfte haben ihre Schaufenster zum Thema „JO24“ (steht für: Jeux Olympiques 2024) mit den üblichen Klischees der Fremdenverkehrswerbung für Paris dekoriert. Überall werden Tassen, Tücher und andere Souvenirs mit dem offiziellen Logo oder den klassischen fünf Ringen verkauft, und natürlich auch das unförmige JO24-Maskottchen, es soll eine Phrygiermütze (aus der Revolutionszeit) darstellen, ähnelt aber mehr einem kleinen roten napoleonischen Dreizackhut. Seit Monaten werben die Stadtbehörden und das Organisationskomitee für den Anlass, der – den lokalen Miesmachern zum Trotz – ein tolles Fest werden soll.
Genau hundert Jahre nach der ersten Olympiade-Organisation in Paris wird die Hauptstadt an der Seine erneut Schauplatz der nach dem dem Vorbild der griechischen Antike vom Franzosen Pierre de Coubertin erfunden internationalen Wettkämpfe. 10 bis 15 Millionen Besucher werden erwartet. Längst nicht alle dieser Olympia-Touristen kommen ausschließlich für den Sport. Dieser ist oft bloß ein guter Vorwand, um endlich die Stadt der Liebe, der Chansons, der Maler, der Gourmets und anderer Lebenskünstler, oder auch der Clochards unter den Brücken in Augenschein zu nehmen.
Idealisiertes Bild von Paris
Dieses Paris, das auch in anderen Jahren mehr Besucher aus aller Welt anzieht als jede andere Kapitale, ist natürlich nicht unbedingt die gleiche Stadt, in der gegenwärtig etwas mehr als 2 Millionen Pariser leben. Ihre Vorstellung ist meistens etwas romantisch und nostalgisch. Mit den fast unvermeidlichen Sehenswürdigkeiten im Blickfeld: Eiffelturm, Moulin Rouge, Montmartre, Triumphbogen und Champs-Elysées, Louvre und all die anderen Museen. Die Touristen aus Europas malen sich ihr Paris aus wie im Film der „Fabelhaften Welt der Amélie“, und die Leute aus Übersee eher wie in der Netflix-Serie „Emily in Paris“.
Die wahre und idealisierte Geschichte ist in Paris aber tatsächlich auf Schritt und Tritt anzutreffen. Hereinspaziert ins Freilichtmuseum Paris! Von Zeiten, in denen es sich in Paris (angeblich) besser als heute – oder der Redewendung zufolge wie Gott in Frankreich – leben ließ, zeugen jede Menge von Bauten, die von der nationalen Denkmalpflege eifersüchtig gegen die Modernisierung gehütet werden.
Belle Epoque hieß das Zeitalter französischer Pracht und Grandeur, in dem der Stadtplaner Baron Haussmann (sein Titel war übrigens fiktiv und usurpiert) auf kaiserliches Geheiß von Napoleon III. ganze Viertel niederreißen durfte, um entlang der neu konzipierten breiten Boulevards schmucke Gebäude für die neue Bourgeoisie zu erstellen. Eine dieser Prunkstraßen rechts von der Seine trägt den Namen dieses Urbanisten des 19. Jahrhunderts. Die großen Warenhäuser Les Galéries Lafayette und Le Printemps am Boulevard Haussmann zeugen ebenfalls von der prachtvollen Architektur der Jahrhundertwende.
Die Folge der vom Denkmalschutz diktierten Stadtplanung ist eine notorische Wohnungsknappheit. Das hat sich in der Zeit vor der Olympiade noch in drastischer Weise verschlimmert. Die Zahl der Wohnungen, die nur noch für kurze Zeit und hauptsächlich an Touristen vermietet werden, ist rapide gestiegen, als in den Medien herumposaunt wurde, dass sich die Eigentümer in den den drei Sommermonaten eine goldene Nase verdienen könnten, weil die Olympiatouristen buchstäblich für jeden Preis eine Übernachtungsmöglichkeit suchen. So zirkulierten Annoncen, in denen Studios in „unmittelbarer Nähe der Wettkämpfe“ für runde 10.000 Euro pro Woche angepriesen wurden.
Unmut der Hauptstadtbewohner
Wenige Tage vor der Eröffnung der Spiele am 26. Juli haben eine große Zahl dieser Internetofferten der Vermieter eher wegen allzu übertriebenen Tarifen (noch) keine Interessenten gefunden. Aber der Ärger der Einwohner, die wegen Airbnb etc. immer mehr Mühe bekunden, auf dem Immobilienmarkt eine einigermaßen erschwingliche Wohnung zu finden, wird dadurch nicht geringer. Die Hauptstadtbewohner, die so schon über Frankreich hinaus dafür bekannt sind, dass sie ständig meckern, entdecken ständig noch neue Gründe oder Motive, um über Unannehmlichkeiten bei der Vorbereitung und Austragung der „JO24“ und andere „Kehrseiten der Medaille“ zu klagen.
Sehr geärgert hatte sie ein Test des Alarmsystems der Polizeipräfektur via Handy. Am 13. Mai schrillten unversehens überall -- im Büro, zu Hause, im Theater oder im Museum -- die Telefongeräte. Mit der empfangenen Mitteilung, die als „absolut dringliche“ Warnung überschrieben war, wurden die Bürgern lediglich informiert, sie könnten jetzt online den Antrag für einen QR-Code stellen, der ihnen den Durchgang durch die streng kontrollierten roten Sicherheitszonen entlang der Seine gewähren werde. Die Ängstlichen hatten schon gemeint, der eigentlich für Extremsituationen vorgesehene Alarm warne sie vor einer Naturkatastrophe oder gar einem Atomkrieg…
Die Behörden der Region haben die lokale Bevölkerung aufgefordert, während der Austragung der olympischen Wettkämpfe wenn möglich im Homeoffice zu arbeiten, um nicht die bereits überaus stark frequentierten Metro- und Buslinien und Vorortszüge beim Ansturm der Besucher zu belasten. Was Frankreich bei der Kandidatur in Sachen kostenlosen und ökologische öffentliche Transportmittel versprochen hat, wurde nicht annähernd realisiert.
Nur gerade die vollautomatisierte Metro-Linie 14 wurde bis zum Flughafen Orly verlängert, doch der Bau anderer zusätzlicher Metro-, Tramway- und Bahnverbindungen wurde in den meisten Fällen nicht einmal angefangen. Und von wegen Gratis-Transport: Der Preis einer Einzelfahrt wurde auf 4 Euro verdoppelt!
Reservierte Fahrspuren für Olympia
Aus Sicherheitsgründen waren aber schon zwei Wochen vor dem offiziellen Start 15 Metro-Stationen, darunter die für Umsteiger wichtige Concorde geschlossen, wegen der Vorbereitungen fielen zudem ständig Buslinien aus. Nur während der großen Streiks sah man so viele Fußgänger auf den Straßen. Auf der Ringautobahn Périphérique und auch auf Achsen innerhalb von Paris wurden Fahrspuren mit der Aufschrift „Paris 2024“ eingerichtet, die für die Delegationen und Offiziellen sowie Ambulanzen und die Polizei reserviert sind. Der ganze restliche Verkehr muss dann mit den bereits total überlasteten Spuren Vorlieb nehmen. Die dabei unvermeidlichen Staus waren absehbar, sie sind für die Einheimischen ein weiterer Grund zu Schimpfen.
„Eines ist sicher, in diesem Sommer werde ich aus Paris flüchten!“ Das ist der Standardsatz der schimpfenden Pariser, die sich von Behinderungen persönlich belästigt fühlen. Dabei verlassen dieselben entrüsteten Hauptstadtbewohner ohnehin jedes Jahr während der Sommermonate Paris für den Urlaub in der Provinz oder im Ausland! Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat die Nase voll von diesem „Olympia-Bashing“ der Nörgler. Sie jedenfalls wolle sich nicht die Festfreude verderben lassen.
Um zu beweisen, dass sie Recht habe und nicht die ewigen Stänkerer, ist sie am 17. Juli schon mal vor den Fernsehkameras in der Seine schwimmen gegangen. Dem Publikum ist das Baden in der Seine, in der olympische Schwimmwettkämpfe stattfinden sollen, frühestens ab 2025 erlaubt. Vielleicht denken sie dann in 12 Monaten rückblickend viel weniger kritisch oder sogar wehmütig an den olympischen Sommer in Paris zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften