Paris-Roman von Patricia Holland Moritz: Ankunft im Kapitalismus
Patricia Holland Moritz schickt in „Drei Sommer lang Paris“ ihre sächsische Protagonistin im vorletzten Sommer der DDR in die französische Hauptstadt.
Ich hänge nicht an diesem Land, aber es ist verdammt schwer, es loszuwerden“, hat der Schriftsteller Eugen Ruge mal über seine DDR-Herkunft geschrieben und dabei auch die mutmaßlich schmerzhaft verlaufene gesellschaftliche Transformation hin zum Westen unmittelbar nach 1989 mitbenannt.
Ruges Kollegin Patricia Holland Moritz knüpft mit „Drei Sommer lang Paris“ in Romanform an diesen schwierigen Prozess an. Sie beschreibt darin sehr anschaulich eine komplizierte Entwurzelung und Neuverortung, und das auf kautzige, aber auch spezifisch weibliche Sichtweise.
Ihr Roman handelt von einer jungen Frau, Ulrike, die über den Umweg eines Ortswechsels von Karl-Marx-Stadt nach Paris ihre DDR-Herkunft abzustreifen versucht. „Drei Sommer lang Paris“ gehört in die Kategorie Wende-Roman. Vielleicht bildet es auch eine eigene Kategorie, den Vor-Nach-Wende-Roman.
Penible Kontrolle
Denn Ulrike, 21-jährig, reist bereits im Sommer 1989 von Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz) kommend nach Paris, einige Monate vor der Wende. Die penible Kontrolle und die Angst beim Verlassen der DDR gehen durch die peinsam-exakte Protokollierung des Grenzübertritts unter die Haut.
Patricia Holland Moritz: „Drei Sommer lang Paris“. Aufbau Verlag, Berlin 2025. 426 Seiten, 24 Euro
Die Protagonistin folgt ihrer geschiedenen Mutter, die bereits in der französischen Hauptstadt mit einem neuen Partner lebt. Über die Dinge in der „ideologisch abgewirtschafteten DDR“ (Steffen Mau) bleibt Ulrike durch Briefe eines oppositionellen Punkfreunds im Bilde. Dessen Wasserstandsmeldungen aus Karl-Marx-Stadt zeugen von dem langsam sinkenden realsozialistischen Wrack und der gesellschaftlichen Erosion, die der Untergang mit sich bringt.
Die Handlung von „Drei Sommer lang Paris“ ist raffiniert aufgefächert: Viel Zeit verbringt Ulrike mit dem Entdecken von Paris, inklusive Spurensuche nach Wohnhäusern von Dichter:innen, Sprachverwirrung und Missverständnissen bei der gesellschaftlichen Etikette im ihr unbekannten Frankreich.
Französisch in Lautschrift
Holland Moritz stellt dies teils dar, indem ihre die Fremdsprache gerade erlernende Protagonistin in Lautschrift Französisch spricht, somit auch den preußisch-sächsischen Zungenschlag einer Person enthaltend, die radebrechend sich zu verständigen sucht: „Ong se feh la biese?“ Hier liegt eine irre komische, aber auch autonome Ebene einer Frau, die die Reisefreiheit wörtlich nimmt, ihr Deutschsein infrage stellt und zugleich keine gesteigerte Lust hat, als Opfer im Westen zu enden.
Im Erkunden von Paris, „der Stadt, die nie richtig wach wurde“, liegt als Subplot die Ankunft von Ulrike im Kapitalismus und ihr Umgang mit den Härten der Marktwirtschaft, die in der französischen Metropole der 1980er schon fortgeschrittener waren als etwa in der behüteten BRD jener Zeit. „Ich beachtete Ampeln. Und war damit ziemlich oft alleine.“
Zudem beschreibt Patricia Holland Moritz eine Coming-of-Age-Situation: Weil Ulrike jung ist und emanzipiert, löst sie sich rasch von der Mutter, und auch von deren altmodisch-bildungsbürgerlichem Parisbild. Sie entdeckt an der Seine – auch beim Abgleichen mit vorhandener deutscher Parisliteratur – eine eigene Stadt, jenseits der Ringautobahn Péripherique, viel migrantischer und stärker von den Verwerfungen des französischen Kolonialismus geprägt.
Schlagfertig und rastlos
Hier entlarvt die Autorin auch das hohle DDR-Gehabe von der Völkerfreundschaft und denkt zurück an die Segregation von mosambikanischen Vertragsarbeitern in Karl-Marx-Stadt. Holland Moritz zeichnet ihre Protagonistin als quirlige, schlagfertige und neugierige Person, deren Erfahrungen in der „mobilitätsblockierten DDR-Gesellschaft“ (Steffen Mau) sie im Westen rastlos hat werden lassen.
Ulrike beginnt im Büro einer Lkw-Spedition zu jobben, wohin sie täglich per RER-Vorortbahn und Bus fährt. Die Details über die Alltagskommunikation im Pariser Nahverkehr und die Modalitäten bei der Fern-Schnell-Gut-Transport-Logistik gehören zu den Höhepunkten, dieses vorzüglich recherchierten Romans.
Gut gefällt an „Drei Sommer lang Paris“ zudem, wie die erzählte Gegenwart der Wendezeit mit Geschichte verknüpft wird, wenn Ulrike diese unterschiedlichen Perspektiven abgleicht: „Ich fühlte mich am wohlsten, wenn ich durch die Vergangenheit gehen konnte, beim Laufen durch die Stadt, beim Lesen meiner Bücher.“ Schließlich schildert die Protagonistin eine Liebesgeschichte, die tragisch und ultralakonisch endet (gespoilert wird nicht).
Holland Moritz schließt mit ihrem zweiten Roman an ihr Debüt „Kaßbergen“ an, in dem sie die relativ behütete DDR-Kindheit von Ulrike beim Vater und der Großmutter in Karl-Marx-Stadt geschildert hatte. Autobiografische Bezüge fließen wieder mit ein, und so würde es nicht verwundern, wenn in dem dritten Roman dann auch die Vergangenheit der Autorin als Bookerin für Bands auftauchen würde.
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