Parathlet über inklusive Raumfahrt: „Das Weltall sollte für alle sein“
Die ESA prüft derzeit, wie auch Menschen mit körperlicher Behinderung ins All fliegen können. John McFall trainiert für den Einsatz als Astronaut.
Im Wohnzimmer von John McFall stapeln sich die Umzugskisten. Bald geht es für ihn und seine Familie von Südengland für zwei Jahre nach Deutschland, ans Astronautenzentrum der Europäischen Agentur für Raumfahrt (ESA) in Köln. Er erscheint ein paar Minuten zu spät zum Videocall, weil seine Kinder beim Nintendo-Spielen versehentlich das Wi-Fi ausgeschaltet haben.
taz: Herr McFall, Sie sind als erster Mensch mit Behinderung weltweit zum Astronauten-Kandidaten ernannt worden. Wie fühlte es sich an, das erste Mal die ESA-Uniform anzuziehen?
Der 42-Jährige ist Chirurg, Athlet und vielleicht bald auch der erste Mensch mit körperlicher Behinderung im Weltall.
John McFall: Früher war ich professioneller Läufer. Ich kenne also das Gefühl, ein Trikot anzuziehen und sofort Teil von etwas Größerem zu sein. Dennoch war das noch einmal eine andere Nummer. Als der Generaldirektor der ESA anrief und sagte: Kommen Sie nach Paris, dort stellen wir die neuen Kandidaten vor, konnte ich es kaum fassen. Dabei habe ich als Kind ehrlich gesagt nie davon geträumt, dass ich einmal ein Astronaut sein könnte.
Warum haben Sie sich dann beworben?
Ein Freund schrieb mir 2021 eine Textnachricht: „Die ESA sucht Leute wie dich für die Raumfahrt!“ Mein erster Gedanke war: Genau – warum sollte ein Mensch mit Behinderung denn auch nicht ins Weltall fliegen können? Diese Herausforderung reizte mich. Und ich hatte Glück. Die ESA hat mir die Chance gegeben, Teil einer zweijährigen Machbarkeitsstudie zu sein, die beweisen will, dass auch Menschen wie ich das können. Das macht mich stolz und dankbar. Das Weltall sollte ein Ort für alle sein.
Und wie machen wir das Weltall zu einem solchen Ort?
Wir haben uns die Trainingsgeräte der Nasa angesehen, die sie für die Vorbereitung auf ISS-Missionen benutzen. Wir wollten herausfinden: Könnte auch ich, mit einer Prothese, diese Geräte benutzen? Wir waren auch bei SpaceX, Elon Musks Raumfahrtunternehmen, in Kalifornien und haben getestet, ob ich deren Raumkapsel in einer Notfallsituation betreten und verlassen kann. Ob ich auf die gesamte Notfallausrüstung im Inneren des Raumschiffs zugreifen kann, und vieles mehr. Bis jetzt waren die Ergebnisse sehr ermutigend. Dennoch müssen wir damit beginnen, Mikrogravitations-Habitate und Trainingseinrichtungen für Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu entwickeln. Wir versuchen die Ausrüstung so zu gestalten, dass sie für mehr Menschen zugänglich ist. Der Weltraum soll in Zukunft inklusiver werden. Aber das braucht Zeit.
Wann wird die ESA entscheiden, ob eine solche Raumfahrt möglich ist?
Die Studie ist für zwei Jahre angesetzt. Sollten wir zu dem Schluss kommen, dass einer solchen Mission nichts im Weg steht, dann beginnt für mich und mein Team das echte Astronautentraining erst so richtig! Ich hoffe also, dass es eine langfristige Zukunft für mich bei der ESA geben wird.
Sie wurden unter anderem ausgewählt, weil Sie Arzt sind und genau einschätzen können, welche Anpassungen der Technologie Sie benötigen. Ihr rechtes Bein musste nach einem schweren Motorradunfall amputiert werden, als Sie 19 Jahre alt waren. Dennoch vertraten Sie später Großbritannien bei den Paralympischen Spielen als Läufer und wurden dann Chirurg. Sie haben einmal gesagt, der Unfall hätte Sie nicht gebremst, sondern Ihnen sogar mehr Antrieb verliehen.
Wenn einem etwas Schlimmes im Leben passiert, dann kommen Eigenschaften zum Vorschein, von denen man vorher nichts ahnte. Ich glaube, wir alle tragen diese verborgenen Kräfte in uns. Natürlich habe ich mir nie gewünscht, eine Amputation zu erleiden. Doch ironischerweise waren die Türen, die sich dadurch öffneten, einfach faszinierend. Der Unfall hat mir gezeigt, wozu ich fähig bin, wenn ich mich anstrenge. Ich war vorher ein ziemlich fauler Teenager.
Das ist ehrlich gesagt schwer zu glauben. Sie kommen aus einer Militärfamilie und hatten vor Ihrem Unfall vor, selbst Soldat zu werden.
Es stimmt, ich sitze nicht gern herum, aber das war ein ganz anderes Level an Willenskraft, das ich aufwenden musste. Der Unfall zwang mich, Hürden zu überwinden, die ich so bis dahin nicht kannte. Ich weiß nicht, ob ich dieselben Erfahrungen gemacht hätte, wenn ich mein Bein nicht verloren hätte. Gleichzeitig glaube ich auch sehr an meine Fähigkeiten als Individuum. Die Prothese allein macht mich nicht aus.
Gab es in ihrem Leben einen Punkt, an dem Sie aufgeben wollten?
Nein, ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Natürlich habe ich mich nach dem Unfall im Krankenbett elend gefühlt. Also überlegte ich, was ich tun muss, um diesem Gefühl zu entkommen. Die Antwort lautete: Weitermachen! Ich wollte rennen, also rannte ich. Nur eben mit Prothese.
Die ESA hat für ihr Programm den Begriff „Parastronaut“ erfunden. Sie selbst haben in einem anderen Interview einmal den Astronauten Tim Peake zitiert, der gesagt hat: „Im Weltall haben alle Menschen eine Behinderung.“ Niemand ist für das Leben im Weltall gemacht. Braucht man dann überhaupt das Präfix Para?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, die Idee war, dass dank der Paralympischen Spiele jeder mit diesem Begriff etwas anfangen kann. Er ist leicht verständlich, er sorgt für Aufmerksamkeit. Aber auf der anderen Seite bin ich ja auch kein Para-Chirurg. Ich bin Chirurg. Ich bin kein Para-Vater, ich bin Vater.
Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris sollen erstmals „Parathlet*innen“ mit nichtbehinderten Athlet*innen die olympische Fackel tragen. Auch die ESA betont inzwischen, dass Sie ein Astronaut sind wie jeder andere. Glauben Sie dennoch, dass der Begriff andere Menschen mit körperlichen Behinderungen vielleicht auch ermutigen könnte?
Das ist auf jeden Fall eine Möglichkeit. Wir müssen genau diese Debatte führen und so viele verschiedene Meinungen dazu einholen wie möglich. Sprache ist wirkmächtig.
Früher ging es im Weltall um den Machtkampf von Staaten und Weltanschauungen, dann immer mehr um die Forschung. Nun entsendet die Nasa die erste Frau und die erste Person of Color auf den Mond. Kommen wir in ein neues Zeitalter der Repräsentation?
Es ist eine unglaublich starke Botschaft, dass nicht mehr nur eine Gruppe von Menschen ins Weltall fliegt. Doch wir dürfen dabei nicht vergessen: Falls ich eines Tages wirklich ins All fliege, dann werde ich einfach ein Astronaut sein, wie alle anderen. Wir alle haben verschiedene Expertisen, meine ist es, Arzt zu sein. Ich möchte in dieser Funktion an der Forschung im All, zum Beispiel auf der Internationalen Raumstation, mitwirken.
Und wenn Sie es tatsächlich ins Weltall schaffen, worauf freuen Sie sich am meisten?
Auf das Gefühl der Schwerelosigkeit und die wundervolle Aussicht. Ich will aber vor allem ein Vermächtnis hinterlassen: nämlich es Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, ins Weltall zu fliegen.
Und wenn Sie nicht der Erste sein werden, sondern jemand anderes?
Dann werde ich natürlich enttäuscht sein. Aber es geht ja nicht um mich, sondern darum, Grenzen zu überschreiten und langfristig einen Unterschied zu machen. Also werde ich stolz sein, durch meinen Beitrag etwas für andere geleistet zu haben.
Was war bis jetzt die größte Herausforderung auf ihrem Weg ins All?
Den Umzug meiner Familie nach Deutschland vorzubereiten.
Wirklich?
Sie sehen ja, mein ganzes Haus steht Kopf. Wir müssen als Familie Schulen für die Kinder und Visa für uns alle organisieren, Umzugsfirmen beauftragen, die Sprache lernen – bitte testen Sie jetzt nicht meine Deutschkenntnisse! Sehr lästig finde ich auch, dass man in Deutschland fast nirgends mit Karte bezahlen kann.
Gibt es in Deutschland auch etwas, auf das Sie sich freuen? Sie können ehrlich sein.
Das Astronautenzentrum der ESA befindet sich in Köln, ich freue mich also auf den Rhein! Ich habe gehört, der Karneval von Köln sei etwas ganz Besonderes.
Sie werden dort auf jeden Fall einer Menge Astronauten begegnen.
Umso besser!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid