Paragraf 265a abschaffen: „Aber das sind ja Glückstränen“
Kamila W. saß im Knast, weil sie kein Ticket hatte. Der Linken-Abgeordnete Luke Hoß hat sie freigekauft. Ein Gesetzentwurf dazu kommt am Donnerstag.
Die Zahlstelle des Amtsgerichts Lichtenberg befindet sich am Ende eines Gangs mit Linoleumboden und tafelgrünen Bänken. Drinnen sortiert Luke Hoß, Abgeordneter der Linken im Bundestag, 50-Euro-Scheine auf der Theke. „Das müssten 1.200 Euro sein“, sagt Hoß zur Sachbearbeiterin. „Sind es.“ Die Sachbearbeiterin lächelt und gibt ihm Rückgeld. Telefoniert. Händigt Hoß eine gelbe Quittung aus.
Zwischen Kunstblumen, Safe und dem Plakat einer Ausstellung über Kreuzfahrten hat Hoß gerade dafür bezahlt, dass Kamila W. das Frauengefängnis in Berlin-Lichtenberg verlassen darf. 1.170 Euro – eine Summe, die W. selbst nicht aufbringen kann. Die Polizei hatte die 47-Jährige in einem Wohnheim für Wohnungslose festgenommen, weil sie beim Fahren ohne Ticket erwischt wurde und das erhöhte Beförderungsentgelt nicht bezahlt hatte. Eine Strafanzeige folgte, und dann eine Wahl, die für Kamila W. keine war: Zahlen oder in den Knast.
Der Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs, eingeführt von den Nazis im Jahr 1935, erlaubt sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen von bis zu einem Jahr für Bagatelldelikte wie das Fahren ohne Ticket. Die Linke fordert die ersatzlose Streichung des Paragrafen. Am Donnerstag will die Partei ihren Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung von ticketlosem Fahren in den Bundestag einbringen.
Hoß hat den Entwurf geschrieben, es ist sein erster. „Die Ungerechtigkeit in diesem Paragrafen beschäftigt mich schon lange“, sagt der 24-Jährige. „Menschen können sich das Ticket einfach nicht leisten. Hier wird Armut mit Haft bestraft, dem schärfsten Schwert des Strafrechts.“
Leonard Ihßen, Sprecher des Freiheitsfonds
Mit der gelben Quittung macht sich Hoß auf zum Besuchereingang des Frauengefängnisses in Lichtenberg. Sein Aufenthalt in der JVA dauert nicht länger als fünf Minuten. Während Kamila W. ihre Zelle räumt und Habseligkeiten zurückbekommt, wartet Hoß im Café nebenan.
„Rattenschwanz der Verarmung“
„Die Haft ist immer ein Rieseneinschnitt in einem Dasein“, sagt Bernd Endert, der Vollzugsbeamte arbeitet in der Leitzentrale der JVA. „Wir bestimmen ihren Tageslauf, wann die Tür offen ist, wann es Essen gibt, wann aufgestanden wird.“ Endert ist seit fast 15 Jahren in den Berliner Frauengefängnissen. Sei eine Frau nicht obdachlos und nicht drogenabhängig, werde sie relativ schnell ausgelöst. „Da ist Quatsch, dass sie hier reinkommen – aber sagen Sie mir eine Alternative.“ Endert plädiert dafür, die Ersatzfreiheitsstrafe beizubehalten.
„Die Inhaftierungen ziehen oft einen Rattenschwanz der Verarmung nach sich“, sagt Leonard Ihßen, er ist Sprecher des Freiheitsfonds. Rund 1.500 Einsitzende hat die Initiative seit 2021 laut eigenen Angaben freigekauft, für knapp 1,3 Millionen Euro. „Menschen verlieren wegen der Haft teilweise ihre Wohnung, ihren Schlafplatz im Heim oder ihren Job. In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr ist die Suizidrate in den Knästen am höchsten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir davor besonders viele Leute rausholen“, sagt Ihßen.
Auf die Einsitzenden aufmerksam wird der Freiheitsfonds durch die Gefängnisse selbst, erklärt Leonard Ihßen. So war es auch bei Kamila W. Als sie das Café betritt, weint sie. „Ich bin jetzt obdachlos“, sagt W. und weint noch mehr. Ihre Hände zittern.
„Ich habe so gebetet, dass ich rauskomme“, sagt W., die ihre Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden hat. Vor allem um ihr Gretchen habe sie Angst gehabt. Gretchen ist ein grauhaariger Chivava und „das Einzige, was ich habe“. Noch eine Woche im Tierheim, dann wäre der Hund zur Adoption freigegeben worden.
Die Mädels drinnen hätten ihr nicht geglaubt, dass ein Politiker sie freikauft. Nett seien die meisten gewesen, eine habe sie in den ersten Tagen mit Tabak versorgt, bevor sie das Geld für den Einkauf bekommen habe. „Jetzt reicht es aber mit dem Heulen“, sagt sie schließlich. „Aber das sind ja Glückstränen.“
Kamila W. bleibt noch einen Moment im Café sitzen, ganz in Ruhe. Danach will sie sich zu Gretchen aufmachen.
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