Nachruf auf Papst Franziskus: Unerlässlich in einer Zeit der politischen Härte
Papst Franziskus war ein klassischer Vertreter der Befreiungstheologie. Er hat die Kirche maßgeblich verändert. Am Ostermontag starb er nach längerer Krankheit.
Die Stimmung in Europa war hitzig und der Papst handelte an Muslimen, wie Jesus es an seinen Jüngern getan hatte. Unerhört! Nicht nur den Geflüchteten liefen die Tränen übers Gesicht, als das Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholik:innen ihnen die Zehen trocknete, sie zum Mund führte und küsste. Wie um vor aller Welt zu sagen: Ihr tragt keine Schuld.
Noch mehr als die KI-Porträts mit hipper Daunenjacke waren es Gesten wie diese, die das Bild des 266. Papstes weltweit prägten. Gesten, fast unerträglich in ihrer Rührseligkeit – und absolut unerlässlich in einer Zeit der politischen Härte.
Schon 2013 führte seine erste Reise den frisch gewählten Pontifex auf die Fluchtinsel Lampedusa. Der erste Lateinamerikaner auf dem Stuhl Petri, selbst Sohn von Migrant:innen, wie er vor dem US-Kongress einmal betonte, hielt dem ach so christlichen Abendland den Spiegel vor. Parteiisch für die Ausgeschlossenen, küssend und umarmend in Asylunterkünften, Gefängnissen und Armenvierteln.
In seinem Köfferchen hatte der Argentinier die Befreiungstheologie mit in den Vatikan gebracht. Papst Franziskus war ein gemäßigter, spätberufener und doch klassischer Vertreter dieser linken Gotteslehre. Mit allen sympathischen Facetten eines solchen – und den problematischen.
Sohn italienischer Einwanderer
Jorge Mario Bergoglio kam am 17. Dezember 1936 als ältestes von fünf Kindern einfacher italienischer Einwanderer im Stadtteil Flores von Buenos Aires zur Welt. Er lernte Chemietechniker, bevor er in den Jesuitenorden eintrat und Philosophie sowie Theologie studierte. Kurz vor seiner Priesterweihe hätte ihn eine Lungenentzündung fast das Leben gekostet, die Entfernung eines Teils der Lunge brachte ihn durch.
Als das Zweite Vatikanische Konzil 1965 endete, nahm die linke Befreiungstheologie in Lateinamerika Fahrt auf. Der radikale Kampf, wie ihn etwa der Befreiungspriester Ernesto Cardenal gegen die Ungerechtigkeit in Nicaragua führte, war Pater Bergoglios Sache nicht. Er begann Literatur und Psychologie an verschiedenen Jesuitenhochschulen zu unterrichten und machte Karriere in seinem Orden.
Gratwanderung während der Diktatur in Argentinien
1976 putschte sich in Argentinien eine Militärjunta an die Macht, die katholische Hierarchie stellte sich großteils hinter das Regime. Oppositionelle, auch Befreiungstheolog:innen, wurden verfolgt, gefoltert, ermordet. Für Bergoglio, mittlerweile argentinischer Provinzial der Jesuiten, bedeutete die Diktatur eine Gratwanderung: Welche Zugeständnisse sollte er den Machthabern machen, um seine Leute zu schützen?
Für viele Argentinier:innen hat Bergoglio falsch entschieden. Im Zentrum ihrer Vorwürfe steht der Fall zweier Jungjesuiten, bis heute ist unklar, welche Rolle der spätere Papst bei ihrer Verhaftung spielte. Hatte er sie gewarnt und gebeten, ihre befreiungstheologische Arbeit in den Armenvierteln zumindest vorübergehend aufzugeben? Hatte er sich bei Diktator Jorge Rafael Videla für die beiden eingesetzt?
So stellte Bergoglio es dar. Einer der beiden gefolterten Jesuiten jedoch erzählte zeit seines Lebens eine andere Geschichte: Er sei sich völlig sicher, dass es Bergoglio selbst war, der Informationen über die Arbeit und Kontakte der Armenpriester an die Militärs weitergegeben habe.
Arbeit mit Drogenabhängigen in den Slums
Nach dem Ende der Militärdiktatur und nach dem gescheiterten Versuch einer Doktorarbeit in Frankfurt am Main wurde Jorge Mario Bergoglio in Buenos Aires zum Bischof ernannt. Wie um Früheres gutzumachen, wandte er sich als solcher entschieden den Armen zu. Dabei leitete ihn nun die teología popular, eine argentinische und weniger revolutionäre Variante der Befreiungstheologie. Er sorgte für die Drogenabhängigen in den Slums seiner Heimatstadt und legte sich mit den Narcos an.
In der dramatischen Wirtschaftskrise Argentiniens von 2001 stellte er öffentlichkeitswirksam die freie Marktwirtschaft und die Globalisierung infrage. Gegen Korruption, regierungskritisch, volksnah und bescheiden, so gewann Erzbischof Bergoglio die Armen für sich. Und den Respekt von Kirchenleuten weltweit.
Nachdem Papst Benedikt XVI. im Februar 2013 sein Amt aufgegeben hatte, wählten die Kardinäle ihren argentinischen Kollegen zum Oberhaupt der skandalgebeutelten katholischen Kirche. Als ersten Nichteuropäer seit über 1.200 Jahren. Vielleicht, um von seiner Glaubwürdigkeit zu profitieren. Einige könnten den Armenbischof aber auch als Übergangslösung gewählt haben, denn gesundheitlich angeschlagen war er schon damals.
Bergoglio hielt im Vatikan an seiner Bescheidenheit fest und grüßte bei seinem ersten Auftritt die auf dem Petersplatz versammelte Menge mit einem einfachen „buona sera“. Er bezog eine schlichte Unterkunft im Vatikan und ließ sich in einem kleinen Fiat kutschieren. Mit seinem Papstnamen deutete er, der Jesuit, in Richtung eines anderen Ordens. Franz von Assisi und die Franziskaner:innen stehen für Armut, die Wertschätzung der Schöpfung und den Dialog mit Andersgläubigen.
Nachdem sein deutscher Vorgänger viel Schaden angerichtet hatte, gelang Papst Franziskus eine bemerkenswerte Annäherung der katholischen Kirche an muslimische Vertreter:innen und die anderen christlichen Kirchen. Das Dokument „Der Bischof von Rom“ von 2024 etwa schlägt vor, die Macht des Papsttums zu reduzieren, um in der Ökumene mit Orthodoxen und Protestant:innen weiterzukommen.
Ökologie und Kapitalismuskritik
Franziskus betrieb das Papstamt „glokal“. Er sah sich selbst schlicht als Bischof der römischen Stadtgesellschaft und stärkte die anderen Ortskirchen in ihrer Selbstbestimmung. Gleichzeitig setzte er Impulse in globalen Fragen. Mit seinem Engagement für Geflüchtete oder seiner Öko-Enzyklika „Laudato Si“ sammelte der Oberhirte Sympathiepunkte weit über den Katholizismus hinaus. Worte wie „diese Wirtschaft tötet“ waren zuvor noch keinem Pontifex über die Lippen gekommen, vor den Vereinten Nationen geißelte der Papst die „Wegwerfkultur“. Wim Wenders’ Film „Ein Mann seines Wortes“ von 2018 ist ein Dokument dieses befreiungstheologischen Aktivismus.
Den „Mann seines Wortes“ vermissten allerdings viele, als Russland die Ukraine überfiel, auch im Gazakrieg hatte Franziskus keinen diplomatischen Erfolg. Und wie andere klassisch-männliche Befreiungstheologen war Franziskus in Fragen von Geschlechterungerechtigkeit und Sexualität verstockt. Zwar gab er Verwaltungsmacht an Frauen ab, ernannte sogar die erste Regierungschefin des Vatikanstaats. Aber nur, so schien es, um der Forderung nach Frauen in „Weiheämtern“ das Wasser abzugraben.
So entschieden er gegen Korruption und Misswirtschaft im Vatikan vorging, so halbherzig blieb Papst Franziskus bei der Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt. Schwangerschaftsabbrüche waren für ihn ein Verbrechen, „als würde man einen Auftragsmörder anheuern, um ein Problem zu lösen.“ Auch das war typisch für einen Befreiungstheologen vom alten Schlag.
Überkommene Sexuallehre
Franziskus forderte die Katholik:innen auf, geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten mit „Barmherzigkeit“ zu begegnen, hetzte selbst aber auf einer Bischofstagung über „frociaggine“, „ausufernde Schwuchteleien“ in den Priesterseminaren. So offen er nach außen auftrat, so fest hielt er im Inneren an der überkommenen Sexual- und Beziehungslehre der Kirche. Obwohl wissenschaftliche Theolog:innen seit Jahren deren Haltlosigkeit betonen.
Die Katholische Universität Löwen distanzierte sich von Franziskus, nachdem er 2024 bei einem Besuch Frauen auf „fruchtbares Empfangen, Sorge, lebendige Hingabe“ reduziert hatte. Früher im Jahr hatte Franziskus schon von „Gender-Ideologie“ als schlimmster Gefahr der heutigen Zeit gesprochen.
Papst Franziskus setzte auf einen freudig-sozialen Aufbruch der katholischen Kirche, gerade durch die wachsenden, konservativen Christengemeinschaften in Asien und Afrika. Den sollten westliche Spleens nicht stören. Bei einem Besuch in Osttimor 2024 sagte der Papst: „Seid vorsichtig! Nehmt euch vor den Krokodilen in Acht, die eure Kultur verändern wollen, die eure Geschichte verändern wollen.“ Krokodile kamen von Australien aus nach Osttimor, wehe, dasselbe würde mit einer Ausgabe von „Gender Trouble“ passieren oder mit irgendwelchen „Schwuchteleien“.
Dass er fehlerhaft war, hat er selbst nie bestritten. „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“, hat Franziskus einmal seine Vision von Kirche beschrieben. Als Papst hat er sie konkret und langfristig verändert.
Am Ostermontag um 7.35 Uhr ist Papst Franziskus nach längerer Krankheit gestorben. Noch am Sonntag hatte er seinen traditionellen Ostersegen „Urbi et orbi“ erteilt. Er wurde 88 Jahre alt.
80 Prozent der Kardinäle, die jetzt zusammenkommen werden, um einen neuen Papst zu wählen, hat Franziskus ernannt. Gewichtige Bischofssitze Europas wie Paris, Florenz und Mailand hat er dabei übergangen, zugunsten von Bischöfen von den Philippinen, aus Indonesien, Indien und sogar Iran.
Doch dass aus dem Konklave ein Papst hervorgeht, der die Lage von Frauen wirklich kennt, von intergeschlechtlichen und queeren Menschen, bleibt wohl vorerst Stoff für Romane und oscarprämierte Spielfilme.
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