Pandemien und Paranoia: Triumph des Irrationalen
Ob Aids oder Corona: Pandemien mobilisieren Ängste und Ohnmachtsgefühle. Da ist es fast zwangsläufig, dass Verschwörungsmythen florieren.
D ie Herren waren aus Bremen angereist. US-Physiker Ernest Sternglass und sein Berufskollege Jens Scheer, beides angesehene Autoritäten der Anti-Atombewegung, standen in der taz-Redaktion, um Tacheles zu reden. Es war Mitte der 1980er Jahre, Aids begann zu wüten, und die beiden Professoren wussten genau, warum: Das Immunschwächesyndrom sei die tödliche Folge radioaktiver Niedrigstrahlung durch den weltweiten Ausbau der Atomkraft. HIV sei der gigantische Vertuschungsversuch einer Atomkatastrophe.
Es war nicht die einzige Verschwörungstheorie, die sich um Aids rankte. Mal wurde die Immunschwäche als Folge der Umweltkrise erklärt, mal als Krankheit der Armut, natürlich auch als Strafe des zürnenden Gottes. US-Forscher Peter Duesberg versammelte eine riesige Anhängerschar, die teilweise bis heute überzeugt ist, dass Aids nichts mit Viren zu tun hat.
Auch zur Herkunft des Erregers zirkulierten schillernde Thesen. Die Bekannteste: HIV sei eine aus dem Ruder gelaufene, laborgezüchtete Biowaffe des US-Militärs. Ähnlich irrationale Positionen bestimmten die Aidsbekämpfung. Selbst der Spiegel war infiziert und machte im Schulterschluss mit CSU-Mann Peter Gauweiler in Panik, um potenzielle Virusträger zu testen, auszusondern, wegzusperren.
HIV und Coronavirus sind grundverschieden, aber sie haben eines gemeinsam. Sie mobilisier(t)en weltweit Angst, Unsicherheit, Ohnmachtsgefühle und gemeingefährlichen Irrsinn in erstaunlichem Ausmaß.
Viren sind eine lautlose, unsichtbare und damit heimtückische Bedrohung. Bei HIV waren vor allem sogenannte Risikogruppen gefährdet, bei Corona sind wir alle dran. Aber die einen sterben an Covid, die anderen spüren nicht mal ein Kratzen im Hals. Gleichzeitig mutiert das Virus permanent, nimmt immer gefährlichere Formen an. Als Folge blüht die Kriegsrhetorik, Politiker wie Macron und Johnson erklären den Kampf gegen Sars-CoV-2 zur Mutter aller Schlachten, den deutschen Coronakrisenstab kommandiert ein General.
In dieser Gemengelage ist eine paranoide Weltdeutung die fast schon logische Konsequenz. Der Verlust wissenschaftlicher Faktizität, der Untergang des Arguments gehören zur Pandemie wie die tägliche Arithmetik der Ansteckung. Dass aber ein naheliegendes Schutzkonzept wie die Impfung von jedem fünften Erwachsenen in Deutschland verweigert oder verschludert wird, überrascht dann doch. Sind wir so vernagelt, so idiotisch im griechischen Sinne?
Die Triage beginnt
Statt die Viruslast durch konsequente Impfdisziplin gegen Null zu drücken, steuert das Land wegen des Bettennotstands der Intensivmedizin auf eine Triage zu, die in zarten Anfängen schon begonnen hat. Wer kommt frühzeitig und wer etwas später auf die Intensivstation, wer wird per Hubschrauber in andere Kliniken verlegt und wer nicht, wen versorgt das medizinische Personal mal mehr, mal weniger aufopferungsvoll? Das wird in den Coronahotspots täglich entschieden.
Die Wut auf die Ungeimpften wächst. Sie sind es vor allem, die unsere medizinischen Ressourcen auffressen; auf manchen Stationen belegen sie 90 Prozent der Covid-Intensivbetten. Sie sorgen dafür, dass dringende Operationen verschoben werden.
Die Konstellationen sind bizarr. Pflegepersonal und Ärzte werden jetzt gesetzlich verdonnert, sich impfen zu lassen, damit sie die wachsenden Heerscharen der Ungeimpften in den Krankenhausbetten bestens versorgen können.
gehört zur Gründergeneration der taz und ist Umweltjournalist in Berlin. Im vergangenen Jahr ist von ihm das Buch „Leckerland ist abgebrannt“ im Hirzel Verlag erschienen.
Die meisten der nicht geimpften Krankenhaus-Patienten sind „Umkehrer“. Sie machen sich Vorwürfe oder bedauern aufrichtig, dass sie die Vakzine verweigert haben. Sie setzen sich damit ihren Schamgefühlen aus. Doch es gibt auch die zweite Kategorie. Menschen, die selbst nach lebensrettender Intensivbehandlung ihrer paranoiden Sicht treu bleiben.
Der Triumph des Irrationalen mache selbst vor dem Tod nicht halt, sagt der Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers. Es geht nicht nur um Corona, es geht um die eigene Identität, die bei diesen Menschen unauflöslich mit der Ablehnung staatlicher und wissenschaftlicher Instanzen verknüpft ist; Misstrauen, Bitterkeit und oft auch Hass sind grenzenlos.
Wenn es um Leben und Tod geht
Der Vertrauensverlust gegenüber der Coronapolitik wird noch dadurch befördert, dass die Pandemie mit ihrer Unberechenbarkeit zwangsläufig zu Widersprüchen, auch zu gravierenden Fehleinschätzungen führt. Auch die Wissenschaft spricht nie mit einer Stimme, anfangs hatte sogar das Robert Koch-Institut das Tragen von Masken abgelehnt. Zuletzt provozierte die Auflösung der epidemischen Notlage Kopfschütteln bis Entsetzen.
Zugleich ist gerade die Medizin – dort wo es um Krankheit, Leben und Tod geht – schon immer anfällig für Argwohn und für Verirrungen bis hin zur Behandlung beim Geistheiler. Das hochtechnisierte, von immer stärkeren ökonomischen Zwängen getriebene Gesundheitssystem trägt selbst viel dazu bei, Misstrauen zu schüren. Man muss nicht an todbringende 5G-Strahlung und implantierte Microchips im Impfkanal glauben, um eine kritische Distanz gegenüber der Medizin und Coronapolitik einzunehmen.
Häme und Hiebe der Medien verstärken den Argwohn. Der Historiker und frühere taz-Redakteur Götz Aly kritisiert zurecht die mediale Begeiferung jeder staatlichen Maßnahme der Coronapolitik „als übertrieben, zu spät oder zu früh, als völlig unbegründet, ungerecht, planlos, als Angriff auf die Grund- und Freiheitsrechte“. Im Dauersirenenton zerlegen Medien genüsslich das „Impfchaos“. Dass das deutsche Coronamanagement lange Zeit relativ erfolgreich war, ist kein Thema. Auch die globale Perspektive fehlt.
Da braucht es einen Schriftsteller wie Ian McEwan, der Corona als Auftakt neuer biosphärischer Kollisionen sieht. Für ihn ist Covid „unser Massen-Tutorial“, und: „Generalprobe und Vorgeschmack für kommende Katastrophen im planetarischen Maßstab“.
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