Otto Schily über die Revolution von 1848: „Schily hat Marx bewundert“
Viktor Schily nahm an der Revolution 1848 teil und tauschte Briefe mit Karl Marx aus. Ein Gespräch mit seinem Urgroßenkel, der nie „Das Kapital“ gelesen hat.
Otto Schily kommt zu spät, wie früher zu seinen Prozessen. Mit wehender Robe lange nach Prozessbeginn in den Gerichtssaal zu stürmen, das war sein Markenzeichen als Rechtsanwalt in den 70er Jahren. „Eine Viertelstunde zu spät ist noch im akademischen Bereich“, sagt er im Café Einstein Unter den Linden, wo man sich trifft, um zu sehen und gesehen zu werden. Er ist 85 Jahre alt, gut gelaunt. Die Kellner kennen ihn, er ist Stammgast.
taz am wochenende: Herr Schily, wer war Viktor Schily?
Otto Schily: Mein Urgroßonkel. Ein 48er, ein Akteur der Revolution von 1848.
Spielte Viktor in der Tradition Ihrer Familie eine Rolle? Gibt es Erinnerungsstücke, Briefe, Bilder?
Leider nein. Ich hätte immer gern ein Bild oder Scherenschnitt von ihm gehabt. Aber es existiert nichts. Auch in den Erzählungen in unserer Familie war er kaum vorhanden.
Warum nicht?
Der Familienstolz war der Komponist Peter Cornelius, dessen Weihnachtslieder wir gesungen haben. Oder mein Großvater Schmuz-Baudiss, der die Königliche Porzellan-Manufaktur geleitet hatte. Die waren leuchtende Figuren der Geschichtserzählung. Von Viktor war nicht viel die Rede. Er galt ein wenig als schwarzes Schaf. Das kam mir als Kind so vor.
Haben Sie sich später für ihn interessiert?
Zum 200. Geburtstag des großen Ökonomen, Denkrevolutionärs und Genussmenschen: Eine Sonderausgabe zu Karl Marx, mit 12 Seiten – in der taz am wochenende vom 5./6.Mai 2018. Außerdem: Vor einem Jahr zog "En Marche" ins französische Parlament ein. Die Partei wollte Bürger stärker an der repräsentativen Demokratie beteiligen. Haben die Partei und Emmanuel Macron ihr Versprechen erfüllt? Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ja, in den sechziger Jahren, als ich Anwalt war und Studenten und 68er verteidigt habe. Viktor war ja auch Rechtsanwalt und Revolutionär gewesen. Da lag das nahe.
Er war ein gescheiterter Revolutionär.
Er hat 1848 in Prüm in der Eifel den Sturm auf das Zeughaus angeführt und das preußische Waffenarsenal leer geräumt. Allerdings hat er, nachdem der Aufstand gescheitert war, die erbeuteten Gewehre eingesammelt und bei den Behörden abgegeben. Er war ein sehr deutscher Revolutionär.
Und ein Brieffreund von Marx.
Ja, er musste wie Marx nach der gescheiterten Revolution 1848 emigrieren. Marx war in London, Viktor Schily in Paris. In den blauen Bänden, den Werken von Marx und Engels, sind die Briefwechsel zwischen ihm und Marx abgedruckt. In den Bänden wird er von den Herausgebern als Radikaldemokrat bezeichnet. Das war er wohl.
War das Verhältnis zwischen Marx und Viktor Schily eines auf Augenhöhe?
Schily hat Marx bewundert, als Autor und Denker. Marx bezeichnet ihn in einem Brief als „treuen Freund“. Er war Delegierter in der von Marx begründeten Internationalen Arbeiter Assoziation. Die Briefe sind lesenswert, auch wenn der dauernde Wechsel von Französisch, Englisch und Deutsch ungewöhnlich ist.
Sie haben 1967 Ihre Tochter Jenny genannt – nach Jenny von Westphalen, der Frau von Marx. War das eine Referenz an den in Ihrer Familie vergessenen Urgroßonkel?
Nein, das war die Zeit. Meine Frau Christine war im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Ich bin über sie in Kontakt mit der Studentenbewegung gekommen. Wir fanden, dass Jenny eine sympathische Figur war. Dass Marx seine Frau nicht immer gut behandelt hatte, war ein Motiv mehr. Der zweite Name unserer Tochter ist Rosa, nach Rosa Luxemburg, deren Briefe aus dem Gefängnis mir immer imponiert haben. Zu Marx hatte ich damals eher ein romantisches Verhältnis.
Und kein intellektuelles?
Nein, ich habe manches von den Frühschriften gelesen, aber nicht „Das Kapital“. Als Anthroposoph ist mir das rein Materialistische fremd geblieben.
Haben Sie Parallelen zwischen sich und Viktor Schily gesehen?
85, wurde als Anwalt verschiedener RAF-Mitglieder bekannt und war Mitbegründer der Grünen. 1989 wechselte er zur SPD, von 1998 bis 2005 war er Innenminister unter Gerhard Schröder. Heute ist er wieder als Anwalt tätig.
Nicht direkt.
Er hat Gewehre erbeutet, Sie haben Militante, die Waffen einsetzten, vor Gericht verteidigt.
Die Entwicklung der Roten Armee Fraktion war eine Tragödie. Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin waren ja brillante Köpfe.
Viktor Schily starb verarmt 1875 in Paris. Marx schrieb kurz zuvor in einem Brief über ihn, dass dieser leider „vergrämt“ und „etwas konservativ“ geworden sei …
Das wusste ich nicht …
Von links nach rechts – erinnert Sie das an jemanden?
Vielleicht ist es eine logische Entwicklung, durch Erfahrung konservativ zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen