Ostsee-Kunst: Landschaft der Sehnsucht

Ab 1910 entstand in der Ortschaft Nidden eine Künstlerkolonie. Deren Bilder sind ab Sonntag in Reinbek bei Hamburg zu sehen.

Die Kurische Nehrung als Sujet. Bild: Schimpke Kunstverlag

HAMBURG taz | Wir haben das in der Schule noch gelernt: wo die Kurische Nehrung liegt und was eine Nehrung überhaupt ist, nämlich ein lang gezogener, in der Regel von Sanddünen bedeckter Landstreifen, der das offene Meer von einem flacheren Teil des Meeres trennt. Damals erstreckte sie sich von der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik südlich hinüber in ein Gebiet, das in unseren Atlanten mit dem Schriftzug „Zur Zeit unter sowjetischer Verwaltung“ überschrieben war.

Dabei war Herr Voth, unser Geschichtslehrer, alles andere als ein Revanchist. Dass Deutschland nun allein die Bundesrepublik war, stellte er niemals in Frage. Herr Voth war, wenn er von der Kurischen Nehrung erzählte, von Nidden und seinen wilden Sanddünen, vom milden Licht der dortigen Ostseeküste, von den sich landeinwärts anschließenden undurchdringlichen Wäldern Ostpreußens mit Bären und Elchen, bei aller Begeisterung von einer seltsamen Traurigkeit umgeben, mit der wir nichts anfangen konnten, auch weil er sie uns nicht erklärte.

Keine Ahnung, ob bei Herrn Voth über dem Sofa ein Bild von Ernst Mollenhauer oder von Karl Eulenstein hing und ob ihm überhaupt die Maler der Kurischen Nehrung etwas gesagt hätten und wenn ja, was. Männer, einige in etwa seines Jahrgangs, die seinerzeit die Welt gemalt haben, die ihm sehr viel zu bedeuten schien.

Malern wie Mollenhauer, Eulenstein, aber auch Georg Lehmann-Fahrwasser oder Erich Kurt Schäfer ist ab Sonntag im Museum Rade in Reinbek bei Hamburg eine Ausstellung gewidmet: „Nidden. Landschaft der Sehnsucht“.

Gemalt wurde die Nehrung, also vor allem die Sanddünen. „Auf der Hohen Düne“, heißt ein Aquarell von Erich Kurt Schäfer, das die 60 Meter hohe Hauptdüne aus der Perspektive des Herannahenden zeigt. „Abend auf der Hohen Düne“ ist ein Ölgemälde von Georg Lehmann-Fahrwasser, bei dem der Betrachter den Dünenkamm erklommen hat und daher auf die hintereinander gestaffelten, sanften Buchten blicken kann. Dann die Ostsee, wie in „Oktoberabend am Strand“ von Wilhelm Eisenblätter, der das aufgewühlte Meer und die sich erhebenden Wolken mit einem absterbenden, knorrigen Baum kontrastiert. Und schließlich die Schiffe, die auf ihr fuhren: die Kurenkähne, lange, sehr flache Boote mit abschwingenden Seiten, die gut das flache Gewässer befahren konnten.

Die Geschichte der Malerkolonie Nidden beginnt, als in den 1910er-Jahren zwei Maler der Münchner „Brücke“ Nidden kennenlernen: Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff. Einen weiteren Schub erhielt die Gruppe, als der Niddener Maler Ludwig Dettmann Direktor der Kunstakademie Königsberg wurde und nicht wenige seiner Kollegen förderte. Eifrig streitet man über den Expressionismus, frönt der Landschafts und auch Tiermalerei. Die Nehrung wird zugleich ein gut frequentierter Ferienort, und die Maler dürften zeitweise nicht schlecht vom Verkauf ihrer Bilder an die Touristen gelebt haben, die auf Nidden Erholung vom Stadtleben suchten – wie etwa Thomas Mann, der sich 1929 auf Nidden eigens ein Sommerhaus erbauen ließ.

Allerdings sind die Zeiten alles andere als gemächlich: 1918 wird in Folge des ersten Weltkrieges Litauen zwar unabhängig, doch die Stadt Memel sowie die ihr vorgelagerte Nehrung wird 1920 nach einem Beschluss des Völkerbundes zum von Frankreich verwalteten Mandatsgebiet „Memelland“. 1923 annektiert Litauen dieses – ob und wie genau das Deutsche Reich und dessen Militär an diesem Schritt beteiligt ist, darüber gibt es unter den Historikern unterschiedliche Bewertungen. 1939 marschiert die Wehrmacht ein, muss das Gebiet vor der anrückenden Roten Armee im Winter 1944 auf 45 räumen und mit ihr gehen die letzten Niddener Maler, fliehen in den Westen.

Leider beschränkt sich die Ausstellung allein auf das Vorzeigen der Niddener Malerei. Ob es eigentlich einen Kontakt zur benachbarten litauischen Künstlerszene gab oder nicht, erfährt der Besucher nicht. Ebenso wenig wird das Verhältnis der Niddener zu den Umwälzungen im deutschen Reich beleuchtet, wo Schritt für Schritt der Krieg vorbereitet wurde.

War das noch litauische Nidden für die Künstler eher Exil oder einfach nur ein netter Flecken Erde, wo man sich wegträumen konnte? Begleitende Briefwechsel, Selbstauskünfte der Künstler oder auch zeitgenössische Kunstrezensionen wären da möglicherweise erhellend gewesen. Denn zumindest einige der Niddener scheinen durchaus unbequeme Geister gewesen zu sein: Karl Eulenstein etwa, 1892 im damaligen Memel und heutigen Klaipeda geboren, malte so, dass 1937 einige seiner Bilder im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt wurden. Ernst Mollenhauer wiederum kümmerte sich um das Sommerhaus des Nidden-Fans Thomas Mann, nachdem dieser 1933 ins Exil gegangen war. Später erhält auch Mollenhauer zeitweise Arbeits und vor allem Ausstellungsverbot.

Erst mit der Unabhängigkeit Litauens 1990 ist die Kurische Nehrung, die bis 1961 militärisches Sperrgebiet war und heute halb zu Litauen und halb zu Russland gehört, nach und nach wieder in den Fokus der Kunstgeschichte gerückt. Und direkt vor Ort? „Die Litauer versuchen den Nimbus der Künstlerkolonie wieder entstehen zu lassen, aber das Interesse an dieser Landschaft muss von den Malern selbst kommen. Da hilft es wenig, wenn der Bürgermeister nur billige Ateliers zur Verfügung stellt“, sagt Bernd Schimpke, Reiseveranstalter und Sammler, aus dessen Bestand sich die Ausstellung schöpft: „Das Schöne ist ja, wenn man so ein abgeschlossenes Gebiet sammelt, gibt es immer weniger, was fehlt, weil es kommt ja nichts dazu.“

Und: Er mag keine Porträts. Weshalb man sich nicht wundern muss, dass auf den ausgestellten Bilder so gut wie nie Menschen abgebildet sind. Schimpkes Lieblingsmaler aus der Nidden-Kolonie ist denn auch Carl Knauf: „Es gibt von Knauf kein einziges Bild, wo ein Mensch drauf ist und von ihm selbst weiß man so gut wie nichts“, sagt er. Mehr weiß man von seiner Frau Friedel – einer Nichte Leni Riefenstahls, wofür sie natürlich erstmal nichts kann.

Knauf starb 1944 in seinem Niddener Haus. Ernst Mollenhauer soll noch versucht haben, die Schätze der Nidden-Maler zu verstecken. Sowjetische Soldaten sollen später mit diesen Bildern ihre Sauna angeheizt haben. Kann sein, dass das stimmt. Es kann aber genauso gut eine der zu Zeiten des Kalten Krieges so beliebten Anekdoten sein, um die Kommunisten der Kulturlosigkeit zu bezichtigen.

In den Westen geflohen, malten manche der Maler nun aus der Erinnerung heraus. Stellvertretend hängt für sie in Reinbek Ernst Mollenhauers „Kleine Dünenlandschaft“ von 1949. Das Bild zeigt eine ferne Sonne, die die in kräftigen Strichen gehaltenen Dünen und Bäume zu beleuchten und zu beleben sucht.

Bernd Schimpke ist derweilen hoffnungsvoll, bald mehr über seinen Niddener Lieblingsmaler Carl Knauf erfahren zu können. Denn eine Spur hat sich aufgetan, hat das kinderlose Ehepaar Knauf doch damals ein Kind aufgenommen, das heute als 92-jährige Frau noch lebt. Er muss, will er sie noch besuchen, allerdings in die entgegengesetzte Richtung reisen: nicht auswärts, sondern westwärts übers Meer und weiter – bis nach Toronto in Kanada.

„Künstlerkolonie Nidden. Landschaft der Sehnsucht“: 25. August bis 10. November, Reinbek bei Hamburg, Museum Rade
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