Ost-Wahlen: Nur Genießer fahren Fahrrad
Sie wollen für Weltoffenheit, Solidarität und Dialog werben. Sechs Tage lang touren Engagierte von Erfurt bis nach Waren an der Müritz.
Morgens um acht Uhr kommt auch Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) aus seinem Amtszimmer herunter. Es tut seiner Laune keinen Abbruch, dass er nach der ersten Runde der Kommunalwahlen gegen einen CDU-Konkurrenten in die Stichwahl muss. Er gibt den Radlern die Aufgabe mit, Bürgern zu verdeutlichen, „wie gut es uns geht“ und auf welch hohem Niveau man klage.
Auch der OB zieht eine Weste über und köpft einen Fußball in die Luft, auf dem er sein Autogramm hinterlassen hat. Ein Ritual, das sich an jeder Station wiederholen wird und auf den Verein „Spirit of football“ zurückgeht, der die Tour mitveranstaltet. Nicht an jeder Station eskortieren allerdings zwei Polizeiwagen das Feld wie hier bis an den Stadtrand.
Hinter der Radelwoche steht die Berliner Stiftung Nord-Süd-Brücken. Sie fördert zivilgesellschaftliches Engagement und Träger, die Entwicklungszusammenarbeit in der Welt sowie in den ostdeutschen Ländern leisten. Über ihre Gründung 1994 berichtet Geschäftsführer Andreas Rosen unterwegs Erstaunliches.
Diese Stiftung konnte Kapital vor Treuhand retten
Die Stiftung geht zurück auf das ebenfalls „Solidaritätskomitee“ der DDR und dessen Vermögen von etwa 17 Millionen Euro. Bürgerrechtler setzten sich erfolgreich am Entwicklungspolitischen Runden Tisch dafür ein, dass das Geld nicht im Topf der Treuhand verschwindet, sondern über die Stiftung weiterhin solidarischen Zwecken zugeführt wird.
Mit 13 dezentralen Trägern in Ostdeutschland kooperiert die Stiftung, acht Standorte, beispielsweise in Halle, Magdeburg oder Neuruppin, besucht die Gruppe auf ihrer Tour. Einige Vertreter radeln deshalb auch mit. Sie sind nicht direkt bei der Stiftung angestellt, sondern ihre Stellen und Projekte werden von den Nord-Süd-Brücken gefördert.
Christian Mädler zum Beispiel, ein Urvieh, der mit seinem durchschnittlich wirkenden Rad schon bis nach Vietnam gestrampelt ist. Daheim im erzgebirgischen Eibenstock hat er Volksfeste organisiert, kennt sich aber auch anderswo aus. Zum Beispiel in Freiberg und seinem Nachbarort Halsbrücke, wo es aktuell einen weiteren Grundstückskauf durch Peter Fitzeks „Königreichsbürger“ zu verhindern gilt. Auch Thüringen mit der ersten Station Sömmerda ist ihm vertraut.
Zwischen Bonifatiuskirche und dem gegenüberliegenden Weltladen hat der Arbeiter-Samariter-Bund Tische, Bänke, ein Zelt und ein Buffet aufgebaut. Bürgermeister Ralf Hauboldt von der Linken ist gekommen und betont die Wichtigkeit politischer Bildung und Demokratieschulung. Und in der Tat hat ein Teil des örtlichen Nachwuchs für diese Begegnung schulfrei bekommen.
Nette Gespräche, statt moralische Predigten
Man bleibt also nicht unter sich, nicht nur unter den ohnehin schon für Demokratie und globale Gerechtigkeit Engagierten. Mit Einheimischen entwickeln sich sofort intensive Gespräche in einer spürbar warmen Atmosphäre. In diesen Zeiten schon mal ein Wert an sich. Missionarisch mit „Predigten“ auf Marktplätzen ist die WSD-Tour nicht unterwegs.
Aber an der Kirche hängt ein großes Banner in Regenbogenfarben für ein weltoffenes Thüringen, wie es mittlerweile in fast jedem Ort zu entdecken ist. Franziska Weiland kommt eigentlich aus dem Eichsfeld, arbeitet beim Eine-Welt-Netzwerk in Jena und ist für das Bündnis Weltoffenes Thüringen aktiv. Eine von mittlerweile 7.642 Unterstützerinnen, neben Einzelpersonen auch Initiativen, Vereine, Gewerbe und Industrie. Formiert hat es sich im vorigen Herbst nach dem AfD-Erfolg bei der Landratswahl in Sonneberg.
Dort habe man gelernt, dass eine alarmierte Einheitsfront „Alle gegen die AfD“ nichts verhindere. Es gelte vielmehr, eigene positive Werte herauszustellen, für etwas ein- und aufzutreten, sagt sie, beispielsweise für die Ideale dieser WSD-Tour. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dieser Strategie ist sie sich nach den Kommunalwahlen von Sonntag nicht mehr so sicher.
Irrtümlicherweise sehe die überregionale Presse es schon als Erfolg an, wenn die AfD keine Spitzenämter erringe. Viel mehr Sorgen macht der Eichsfelderin deren Zuwachs in den Gemeinderäten und Kreistagen. Dennoch bleibe das Oberziel, statt die Spaltung zu vertiefen, wieder ein Wir-Gefühl zu vermitteln. Da ist Weiland in dieser Radlergruppe bestens aufgehoben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin