Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan: Vergessen in Rawalpindi
Als die deutschen Soldaten Afghanistan verließen, gaben Deniz Ahmadi und Mohammad Rasol die Starterlaubnis. Jetzt sind sie in Pakistan gestrandet.
E in sandfarbenes Kleid, bodenlang, mit goldenen Perlen geschmückt. Mohammad Rasol greift nach dem seidenen Stoff. „Wenn meine Frau nach Pakistan kommt, gehen wir zusammen auf den Basar“, sagt er. „Dann schenke ich ihr das.“ Sie befindet sich noch in Masar-i-Scharif, ihrer Heimatstadt in Afghanistan. Er sitzt seit einer Woche in Rawalpindi, Pakistan, fest. „Sie wollte mich erst nicht gehen lassen“, sagt er über seine Frau. Dann haben die Taliban zwei Männer erschossen, direkt vor dem Fenster ihres Verstecks. „In dem Moment sagte sie zu mir: Verschwinde. So schnell wie möglich.“
Marktschreier, gefälschte Rolexuhren, frische Granatäpfel. Es ist knallvoll auf dem Raja-Basar in Rawalpindi. Mohammad Rasol, 35, und sein Freund Deniz Ahmadi, 29 (beide Namen geändert), quetschen sich durch die Menschenmassen. Es riecht nach Benzin, Rikschaabgase brennen in den Augen. Der Lärm klappernder Auspuffe und hupender Taxis dröhnt durch die Stadt. „Es ist etwas zu voll“, sagt Ahmadi. Die beiden sind diesen Trubel nicht mehr gewohnt, sowie generell fremde Menschen. Drei Monate lang waren sie auf der Flucht. Sie haben sich versteckt, aus Angst vor der Rache der Taliban.
Ahmadi und Rasol sind zwei von zehn afghanischen Fluglotsen, die jahrelang für die Bundeswehr im Tower von Masar-i-Scharif gedient haben. Deutsche Soldaten haben sie 2011 ausgebildet. Die Afghanen hatten da gerade erst die Schule abgeschlossen. In den Jahren danach haben sie selbst den Luftverkehr überwacht. Bis zum Sommer diesen Jahres, als die deutschen Truppen Afghanistan verließen. Rasol und Ahmadi haben ihnen die Starterlaubnis gegeben. Sie selbst aber wurden zurückgelassen.
Die Flucht zum Flughafen Kabul
Nur sechs Wochen später hatten die Taliban Masar-i-Scharif umzingelt. Am 12. August packten Ahmadi und Rasol für ihre Familien jeweils einen Rucksack, darin nur Kleidungsstücke, alles andere ließen sie zurück. „Wir hatten eine Stunde“, sagt Rasol. „Dann sind wir nach Kabul geflohen.“ Von da an versteckten sie sich.
Es dauerte 90 Tage, bis die beiden das Land verlassen konnten. Jetzt, in Pakistan, fühlen sie sich erstmals sicher. Früher konnten sie nicht fliehen – das Verteidigungsministerium hatte sie zunächst nicht als Ortskräfte anerkannt. Sie seien nur auf Basis von Werkverträgen angestellt, hieß es. Deshalb könnten sie keine Aufnahmezusage aus Deutschland bekommen.
Es brauchte zahlreiche Medienberichte, Druck von Politikern und eine Klage, damit die Verantwortlichen ihre Meinung änderten: Am 10. November wurden die Fluglotsen auf einer Bundespressekonferenz offiziell zu Ortskräften erklärt. „Bei genauer Prüfung haben wir festgestellt, dass sich hinter diesen Verträgen Beschäftigungsverhältnisse verbergen“, sagte David Helmbold, Sprecher des Verteidigungsministeriums.
„Einer unserer deutschen Kollegen von der Bundeswehr hat uns sofort angerufen, um uns die Neuigkeit mitzuteilen. In dem Moment hat meine Frau vor Erleichterung geweint“, sagt Rasol. „Ich sagte zu ihr: Wir haben es geschafft. Wir haben gewonnen.“
Sie wollten eigentlich alle gemeinsam fliehen. Rasol, Ahmadi, ihre Frauen und Kinder. Die beiden haben zwei Söhne, sie sind im selben Alter, zwei und vier Jahre alt. Auch die anderen acht Kollegen aus dem Tower und ihre Familien sollten mitkommen. Aber nur Rasol und Ahmadi konnten das Land verlassen. Sie sind die Einzigen aus ihrer Gruppe, die noch rechtzeitig ein Visum für Pakistan ergattern konnten. Danach stoppten die pakistanischen Behörden die Visavergabe an Afghanen.
Rasol und Ahmadi haben sich die gleiche Lederjacke gekauft, Rasol trägt T-Shirt und Jeans, beide haben sich den Bart frisch getrimmt. Sie dürfen wieder sie selbst sein. Noch eine Woche zuvor sind sie mit langen Bärten, Turban und traditioneller Kurta zum Flughafen Kabul gefahren. „Wir haben versucht, wie die Taliban auszusehen“, sagt Mohammad Rasol.
Es hat funktioniert. Vor dem Abflug säuberten sie ihre Smartphones. Löschten Fotos, den Whatsapp-Verlauf, Kontakte. Alles, was auf ihre Arbeit mit den Deutschen hindeuten könnte. Wenig später saßen sie in einer Maschine, die die private Initiative Luftbrücke Kabul gechartert hatte. Sie landeten mit 146 anderen Geflüchteten im pakistanischen Islamabad.
Jetzt ist ihr neues Zuhause ein 15-Quadratmeter-Zimmer mit zwei Einzelbetten. Ihr Hotel liegt in der Nähe des Basars, direkt am Highway. In den Gängen wird geraucht, die Zimmer sind dunkel. „Das reicht uns völlig“, sagt Ahmadi. „Hauptsache, wir sind in Sicherheit.“
Warten auf die Familie
Draußen sitzen Familien auf Plastikstühlen und trinken pakistanischen Milchtee. Kinder spielen auf quietschenden Schaukeln und rostigen Rutschen. Alle Hotelgäste sind afghanische Geflüchtete, viele von ihnen sind mit demselben Flugzeug wie Ahmadi und Rasol in Pakistan gelandet. Sie wurden hier untergebracht, nur kurz, für ein paar Tage.
Rasol und Ahmadi verabschieden sich immer wieder von Menschen, die voller Vorfreude weiter nach Deutschland fliegen. Sie selbst warten noch, bis ihre Familien nachkommen.
Die Zeit läuft. Sechzig Tage lang dürfen sich Rasol und Ahmadi höchstens in Pakistan aufhalten. Dann laufen ihre Visa ab. Wenn ihre Familien bis dahin nicht nachkommen, müssen sie ohne sie nach Deutschland fliegen. „Wenn sie nicht zusammen einreisen, droht ihnen ein langwieriges Verfahren zum Familiennachzug“, sagt Axel Steier, Gründer der Hilfsorganisation Mission Lifeline. „Dann kann es Jahre dauern, bis die Familien nachkommen.“ Die beiden Männer in Rawalpindi sind besorgt. „Wir müssen sie retten“, sagt Ahmadi. „Wir haben ihnen die Freiheit genommen. Wegen unserer Arbeit mit den Deutschen.“
Auch ihre Kollegen sind noch immer in Gefahr. Sie verstecken sich derzeit an verschiedenen Orten, verteilt in Afghanistan. Einige von ihnen konnten nicht einmal Visa beantragen. Ihre Pässe sind abgelaufen. Es ist schwer, in Afghanistan an Dokumente zu kommen. Die Taliban können oder wollen die Ämter nicht am Laufen halten. „Die Bundesregierung könnte mit den Taliban oder den Anrainerstaaten Afghanistans verhandeln, damit der Papierkram keine Rolle spielt“, sagt Steier. „Aber passiert ist bisher nichts.“
Auf dem Raja-Basar in Rawalpindi klettert ein angeleinter Affe auf seinem Herrchen herum. Ein Zuckerwatteverkäufer schlängelt sich durch vorbeidonnernde Rikschas und klopft an Autofenster. An einem Eckstand lockt ein Verkäufer in grauer Kurta mit Taschen. Ahmadi bleibt stehen, lässt sich einen roten Rucksack zeigen. „Wenn meine Familie und ich in Deutschland sind, brauchen wir sicher einen“, sagt er. „Für Ausflüge und Kurzurlaube.“
Früher hätten sie so etwas öfter gemacht. Es waren die einfachen Dinge, die in den letzten Monaten am meisten gefehlt haben. Restaurantbesuche, Spaziergänge im Park. „Es fühlt sich an wie im Gefängnis, wenn du das Haus nicht verlassen darfst“, meint Ahmadi. „Da gibt es keinen Unterschied.“
Der gescheiterte erste Fluchtversuch
Der erste Versuch, aus Afghanistan auszubrechen, war für den 25. August geplant. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fluglotsen seit zehn Tagen auf der Flucht vor den Taliban. Gegen Mittag klingelte bei Ahmadi das Telefon: ein Anruf aus dem Flughafen Kabul. Das Krisenunterstützungsteam der Bundeswehr will die Fluglotsen nach Usbekistan bringen. Sie sollen alle so schnell wie möglich mit ihren Familien zum Abbey Gate kommen, das Tor im Osten des Airports. Heute Nacht ginge es los, hieß es. Spezialkräfte würden sie ins Gebäude bringen. Codewort: „Yellow“.
„Da waren Tausende Menschen“, erinnert sich Ahmadi. „Alle wollten ins Flughafengebäude. Wir haben Menschen gesehen, die totgetrampelt wurden.“ 24 Stunden lang saßen sie mit ihren Kindern im Staub, ohne Essen. Eine Frau aus der Gruppe war schwanger. Das Wasser wurde knapp. In der ganzen Zeit sahen sie nicht einen deutschen Soldaten. „Unsere Kinder konnten nicht mehr dableiben“, erzählt Ahmadi. „Es wurde zu viel.“
Sie kehrten in ihren jeweiligen Unterschlupf zurück – Hotelzimmer und Pensionen, verteilt in der Hauptstadt. Ein paar Stunden später sahen sie im Fernsehen die Explosion. Ein Selbstmordattentat der Dschihadistenmiliz IS, bei dem nach Angaben der Taliban 170 Afghanen starben. „Ich sah all die verletzten Menschen“, sagt Rasol, „und dachte mir: Genau da standen wir gerade eben noch.“
Der Tag der Explosion war der letzte Tag der Evakuierungsmission der Bundeswehr. In den Wochen danach machten sich die Fluglotsen unsichtbar. Das Hotelleben in Kabul wurde schnell zu teuer. Nach und nach versteckten sich die Familien wieder in der Nähe von Masar-i-Scharif. Die Ahmadis fanden eine Wohnung über einem Autoreparaturlager. Das Dach war kaputt. „Aber der Ort sah unauffällig aus“, sagt Deniz Ahmadi. Doch auch diesen Platz durchkämmten die Taliban. „Die Putzfrau erzählte uns, dass die Leute von der neuen Regierung am nächsten Tag zur Kontrolle kommen.“
Ahmadi weiß, wie solche Kontrollen ablaufen. „Erst klopfen sie an die Tür, dann stürmen sie mit zehn, zwölf Mann die Wohnung.“ Er zuckt mit den Schultern. „Sie durchsuchen alles. Vielleicht töten sie auch. Das kommt ganz darauf an, wie die jeweiligen Talibankämpfer ticken.“ Die meisten von ihnen seien jung, gerade mal 18 bis 25 Jahre alt. Dazu ungebildet. Und sie alle würden die Scharia, das islamische Recht, unterschiedlich interpretieren. Nur in einer Sache sind sie sich einig, meint Rasol. „Wenn du mit der Nato, den Amerikanern, den Deutschen – mit welchen Ausländern auch immer – gearbeitet hast, dann bis du kein Muslim. Dann ist es ihr Recht, dich umzubringen.“
Deniz Ahmadi über die Hausdurchsuchungen der Taliban
Nur hin und wieder huschte Ahmadi in einen Supermarkt, um für seine Familie einzukaufen. Ansonsten ging er nicht vor die Tür. Die Preise für Lebensmittel stiegen um das Doppelte. Frauen waren kaum noch zu sehen – und wenn doch, dann nur vollständig verschleiert und mit einem Mahram, einem männlichen Familienmitglied, an ihrer Seite. Die Straßen leerten sich. Wer rausging, hatte etwas Wichtiges zu erledigen. Ab und zu brausten Taliban mit Motorrädern durch die Straßen und ließen dabei laute Propagandasongs aus Boxen dröhnen. Andere Musik ist verboten.
Die Flucht war ermüdend, und gleichzeitig hielt sie wach. Die Angst vor den Taliban brachte Ahmadi und Rasol um den Schlaf. Oft hallten Schüsse durch die Nacht. Tagsüber konnten sie nicht viel tun. Ahmadi schrieb immer wieder E-Mails im Namen seiner Gruppe – an Hilfsorganisationen, Journalisten und die verschiedenen Ministerien in Deutschland. Nach der fehlgeschlagenen Mission am Abbey Gate des Kabuler Flughafens rührte sich aus Deutschland niemand mehr. Tausende Ortskräfte saßen in Afghanistan fest, aber in Deutschland war das kaum noch Thema. Es war die Zeit der Bundestagswahl.
Anfang Oktober landete der Fall der Fluglotsen bei der Kabul Luftbrücke. Grünen-Politiker Erik Marquardt hat die Initiative ins Leben gerufen, um Fluchtrouten für afghanische Ortskräfte zu finden. „Wir versuchen, auch die Fluglotsen zu retten“, versprach Marquardt damals. „Den Taliban ist es schließlich völlig egal, welchen Arbeitsvertrag die Leute haben.“
Doch für die Rettung musste das Verteidigungsministerium sie erst offiziell als Ortskräfte anerkennen. Mehrere Male wurde das geprüft – und mehrere Male abgelehnt. Der Fall habe im Verteidigungsministerium internen Streit ausgelöst, verrät ein Mitarbeiter. Letztlich sei der Druck „auch von politischer Seite“ zu hoch gewesen. Man musste sie anerkennen. „Unsere Jungs haben zehn Jahre lang super Arbeit geleistet, sie haben ein gutes Gehalt von der Bundeswehr bekommen“, sagt ein ehemaliger deutscher Kollege der Fluglotsen. „Und als wir abgezogen wurden, haben sie eine Abfindung bekommen. Sie waren Mitarbeiter der Bundeswehr, so wie wir es waren.“
„Die Bundeswehr war wie eine Familie“
Es gibt einige deutsche Soldaten, die sich um ihre afghanischen Kollegen sorgen. „Wir waren wie eine Familie“, sagt Mohammad Rasol. „Wir haben im Tower Geburtstage gefeiert. Unsere Kinder und Frauen waren immer dabei.“ Die beiden mochten es, mit den Deutschen zu arbeiten. „Und wir bereuen es auch nicht“, sagt Ahmadi. „Auch wenn wir deshalb in Gefahr geraten sind – in den Jahren davor hatten wir ein schönes Leben.“ Rasol nickt. „Meine Familie und ich konnten uns ein kleines Haus leisten“, erzählt er. „Wir waren glücklich, hatten alles, was wir brauchten.“ So ein Glück hätte nicht jeder in Afghanistan, meinen die beiden. Jetzt haben sie alles zurückgelassen.
Der Smog über Rawalpindi schimmert orange. Es wird Abend. Am Straßenrand wendet ein Mann mit schwarzen Augen und weißem Papierhut Hähnchenspieße. Der Duft lockt. Rasol bestellt für sich und Ahmadi ein paar pakistanische Gerichte. Er probiert einen großen Löffel Gehacktes. „Ziegenhirn“, sagt der Kellner. Rasol schiebt den Teller von sich und lacht. „Es tut gut, abends einfach draußen zu sitzen“, sagt er dann. Das hat er schon lange nicht mehr gemacht. „Aber ich vermisse meine Familie. Und unsere Kollegen.“
Manche überlegen, über den Landweg am Khaiberpass im Osten Afghanistans nach Pakistan zu fliehen, sollten sie irgendwie an Visa kommen. Der Weg ist nicht ungefährlich. Tausende drängen sich jeden Tag zur Grenze, warten oft nächtelang in der Kälte auf Durchlass. Sie würden das auf sich nehmen, um frei zu sein.
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