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Opferschutzbeauftragter über seinen Job„Viele Opfer erzählen nichts“

Thomas Pfleiderer ist Opferschutzbeauftragter in Niedersachsen. Ein Gespräch über Gewalterfahrungen und empathische Richter*innen.

Hatte als Staatsanwalt öfter Kontakt zu Opfern: Thomas Pfleiderer Foto: dpa / Sina Schuldt
Friederike Grabitz
Interview von Friederike Grabitz

taz: Herr Pfleiderer, waren Sie selbst schon einmal Opfer?

Thomas Pfleiderer: Ja, schon mehrfach. Als junger Mann bin ich mal verdroschen worden und weiß, wie weh das tut. Einmal wurde bei uns eingebrochen, das hängt mir und besonders meiner Frau immer noch nach. Vor einigen Jahren wurde ich von Neonazis gestalkt, das war sehr unangenehm vor allem für meine Familie. Ich weiß, was so alles passieren kann. Das war aber nicht ausschlaggebend für meine Entscheidung, Opferschutzbeauftragter zu werden.

Sondern?

Als Staatsanwalt hatte ich oft Kontakt mit Opfern. Einmal ermittelte ich gegen zwei Männer, die einen Uhrmacher ermordet und ausgeraubt hatten. Ich fragte mich: Wer kümmert sich eigentlich um die Witwe? Sie hatte ihn schließlich am Tatort gefunden, das war sehr grausig.

Es gibt Opferschutz-Organisationen wie den „Weißen Ring“. Warum braucht es da noch Opferschutzbeauftragte?

Wir sind zentraler Anlaufpunkt bei Straftaten. Meine Kolleginnen sind am Telefon für die Menschen da und vermitteln sie an Organisationen, die dann helfen. Wir wollen so bekannt sein, dass man zuerst die Polizei anruft, wenn man Opfer einer Straftat geworden ist, und danach ruft man uns an.

Was macht ein*e Opfer­schutzbeauftragte*r?

Wir wurden in den Bundesländern eingesetzt, nachdem die Versorgung der Opfer nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz nicht gut gelaufen war. Einer unserer Aufträge ist es, dass bei solchen Großschadensereignissen schnell psychologische Unterstützung und praktische Hilfen zur Verfügung stehen. Dafür habe ich Strukturen und einen Notfallplan erstellt. Außerdem überprüfen wir Hilfsangebote, die in Gesetzen und Verordnungen stehen. Wenn man nachfragt, gibt es zum Teil Verbesserungspotenzial. Wir machen uns stark für die Versorgung durch Trauma-Ambulanzen und für psychosoziale Prozessbegleitung, damit Opfer, die vor Gericht aussagen, in dieser schwierigen Situation nicht allein sind. Außerdem vernetzen wir Hilfsorganisationen, oft kennen sie sich nämlich untereinander gar nicht.

Im Interview: Thomas Pfleiderer

Jahrgang 1950, ist seit November 2019 Opferschutzbeauftragter des Landes Niedersachsen. In diesem Ehrenamt leitet er eine mit drei hauptamtlichen Mitarbeiterinnen besetzte Geschäftsstelle. Vor seiner Pensionierung war Pfleiderer Leitender Oberstaatsanwalt in Bückeburg und Hildesheim.

Wann ist jemand ein Opfer?

Vor dem Strafgesetzbuch kennen wir den Opferbegriff nicht. Das Strafgesetzbuch spricht von „Verletzten“, das wäre der Widerpart einer Straftat. Opfer ist man also, wenn man durch eine Straftat zu Schaden kommt. Folglich sind wir beispielsweise bei Naturkatastrophen nicht zuständig, dann kommt der Katastrophenschutz ins Spiel.

Welche sind die häufigsten ­Delikte?

Nach dem letzten Jahresbericht der Stiftung Opferhilfe Niedersachsen suchen die weitaus meisten Menschen Hilfe nach Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (41 Prozent), und ein Drittel der Hilfesuchenden wurde körperlich angegriffen beziehungsweise verletzt.

Gibt es eine hohe Dunkelziffer?

Ja, denn viele Opfer verhalten sich nicht logisch. Ihnen wurde Schmerz zugefügt, aber sie erstatten keine Anzeige. Sie erzählen noch nicht einmal jemandem, was passiert ist. Sie schämen sich. Dabei sollten sich ja nicht die Opfer schämen, sondern die Täter.

Was ist daran problematisch, wenn Opfer keine Anzeige erstatten?

Sie tragen das Geschehene mit sich herum und glauben, keine Hilfe zu brauchen. Manchmal kommen Menschen nach 20 Jahren und schildern ein Verbrechen, das sie nie angezeigt haben. Sie haben nach so langer Zeit psychische Probleme oder sogar eine posttraumatische Belastungsstörung bekommen. Das Problem: Es ist schwierig, dem noch auf den Grund zu gehen, ein Prozess nach so langer Zeit hat selten Erfolg. Doch häufig erhalten Opfer keine Entschädigung, wenn im Strafverfahren nicht die Tat festgestellt wurde.

Wer entschädigt denn die Opfer?

Nach dem Opferentschädigungsrecht zahlen die Sozialsysteme Opfern von Gewalttaten oder Hinterbliebenen von Todesopfern medizinische Hilfsmittel, Entschädigungen und Fürsorgeleistungen. Sie bekommen beispielsweise eine Soforthilfe in einer Trauma-Ambulanz.

Wie wichtig ist Gerechtigkeit für den Verarbeitungsprozess?

Sie ist wichtig, ganz wichtig. Selbst wenn die Opfer mit dem Urteil unter Umständen nicht einverstanden sind und es zu mild finden, haben sie die Gewissheit: „Ich habe mir das nicht gefallen lassen“.

Müssten die Opfer vor Gericht gestärkt werden?

Wie es den Opfern geht, hängt ganz wesentlich vom Verhalten der Richter und Richterinnen und der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ab. Sie sind dafür aber nicht ausgebildet, im Jurastudium kommen diese Aspekte nicht vor. Wenn auf dem Richterstuhl jemand mit wenig Empathie sitzt, ist das viel schwieriger, als wenn eine Richterin sich fragt: Was muten wir dem Opfer hier zu? Zum Beispiel wird bei Sexualdelikten im Gerichtssaal über Dinge gesprochen, die würden Sie noch nicht einmal Ihrem Partner erzählen.

Wie könnte das verbessert werden?

Wir befürworten Fortbildungen und dass es an allen Gerichten spezielle Vernehmungszimmer für Kinder und Jugendliche gibt, wie sie größere Gerichte heute schon haben. Diese sind kindgerecht eingerichtet und mit Kameras ausgestattet. Speziell ausgebildete Richterinnen und Richter vernehmen die Kinder, und die Aufnahme wird in ein anderes Zimmer übertragen. Sie wird auch aufgezeichnet, damit das Kind im besten Falle nicht noch einmal vernommen werden braucht. Ich kenne einen Fall, da wurde ein Kind 19 Mal vernommen – entsetzlich!

Lassen sich durch Prävention Verbrechen verhindern?

Prävention kann viel bewirken. Der Präventionsrat Hildesheim zum Beispiel hat dafür gesorgt, dass dunkle Ecken in der Stadt besser ausgeleuchtet werden. Polizisten klären Rentner auf, wie sie sich vor Betrügern schützen können, und Sprayer, die erwischt werden, müssen als Teil der Wiedergutmachung mit einem Malermeister die Graffiti überstreichen. Das hat dazu geführt, dass deutlich weniger illegal gesprayt wird.

Was kann die Gesellschaft tun, um Betroffenen zu helfen?

Wenn man in seinem Umfeld mitbekommt, dass jemand Opfer einer Straftat geworden ist, ist es wichtig, auf ihn oder sie aktiv zuzugehen und Hilfe anzubieten. Opfer einer schweren Straftat zu werden, ist mit das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann. Und es kann jeden treffen. Deshalb ist der Opferschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

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