Opferangehörige bei NSU-Prozess: „Ich vergebe Ihnen“
Die Angehörigen zweier NSU-Opfer fordern, Carsten S. von einer Haftstrafe zu verschonen. Beate Zschäpe werfen Sie dagegen „Lügen“ vor.
Carsten S. soll dem NSU-Trio die Ceska-Pistole überbracht haben, mit der die Rechtsterroristen von 2000 bis 2006 neun Migranten erschossen, darunter Yasar und Özüdogru. Im NSU-Prozess hatte S. als einziger der fünf Angeklagten umfassend, teils unter Tränen, ausgesagt und sich selbst schwer belastet. Auch die Bundesanwaltschaft hatte das Geständnis gewürdigt und in ihrem Plädoyer eine dreijährige Haftstrafe nach Jugendrecht gefordert. Für den zweiten mutmaßlichen Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben plädierte sie dagegen auf zwölf Jahre Haft.
Am Dienstag nun setzte die Nebenklage ihre Plädoyers fort. Daimagüler hielt seine Schlussworte stellvertretend für die Familien von Yasar und Özudogru. Dabei verlas er auch die Erklärung von Yasars Tochter, die sich direkt an Carsten S. richtete. „Sie haben dabei geholfen, dass mein Vater, Ismail Yasar, nicht mehr am Leben ist“, heißt es darin. „Es fällt mir schwer, nicht zornig zu sein. Ich will aber nicht mehr zornig sein. Ich will nicht mehr mit Wut zu Bett gehen und mit Wut aufwachen.“
Dann erläuterte die Tochter die Beweggründe, warum sie für ein mildes Urteil für Carsten S. eintritt. „Mein Anwalt hat mir berichtet, dass Sie als Einziger der Angeklagten Ihre Schuld eingeräumt haben. Er hat mir auch berichtet, dass Sie als Einziger unter den Angeklagten hingeschaut haben, wenn die Bilder der Toten an die Wand gespielt wurden, und dass Ihre Augen dabei vor Entsetzen ganz weit waren.“ Sie nehme deshalb die Entschuldigung von S. an.
„Ich will aber auch, dass Sie Ihre Schuld abtragen“, erklärte die Tochter weiter. „Sprechen Sie mit jungen Menschen. Gehen Sie zu Ihnen und erzählen Sie Ihre Geschichte. Warnen Sie sie vor dem Hass der Nazis und vor dem Unheil, das diese Menschen anrichten. Dann werden Sie vielleicht eines Tages so weit sein, dass Sie auch sich selbst verzeihen können.“ Anwalt Daimagüler bekräftigte diese Sicht: Carsten S. sei außerhalb des Gefängnisses für die Gesellschaft nützlicher als hinter Gittern.
Carsten S. war als Jugendlicher in der Thüringer Neonazi-Szene aktiv. Der NSU-Unterstützer Wohlleben setzte ihn als Boten zu dem 1998 untergetauchten Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ein. Dabei überbrachte S. auch die Mordwaffe. Im Prozess hatte er dies bereut und sich dafür entschuldigt. Carsten S. stieg bereits vor Jahren aus der rechtsextremen Szene aus, outete sich als Homosexueller und arbeitete zuletzt für die Düsseldorfer Aidshilfe. Er befindet sich in einem Zeugenschutzprogramm.
Kein Vergeben für Zschäpe
Die Tochter Yasars und die Geschwister Özüdogrus richteten am Dienstag auch eine Erklärung an Beate Zschäpe. „Wir nehmen Ihre Entschuldigung nicht an. Wir verzeihen Ihnen nicht. Wir verzeihen Ihnen nicht den Mord an unserem Bruder. Wir verzeihen Ihnen nicht die Lügen, die Sie uns hier aufgetischt haben.“ Zschäpe hatte sich nach langem Schweigen im Prozess doch noch eingelassen – die Schuld für alle NSU-Taten aber auf ihre Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt abgewälzt.
Dennoch schlossen die Opferfamilien eine Versöhnung mit Zschäpe nicht aus. „Wenn Sie aber irgendwann bereit sind, sich Ihrer Vergangenheit zu stellen, wenn Sie wirklich bereit sind, ohne jede Schminke in den Spiegel zu blicken, wenn Sie bereit sind, uns zu helfen, abzuschließen, dann schreiben Sie uns“, heißt es in ihrer Erklärung weiter. „Dann, aber auch nur dann, können wir Ihnen vergeben, dann werden wir Ihnen vielleicht vergeben.“
Die Bundesanwaltschalt sieht Zschäpe voll schuldig für alle zehn Morde, zwei Anschläge und 15 Raubüberfälle des NSU. Sie forderte für die 42-Jährige die Höchststrafe: lebenslange Haft mit Sicherungsverwahrung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fußball WM 2030 und 2034
Der Profit bleibt am Ball