Open-Air-Premiere am Deutschen Theater: Die Narren dürfen wieder
Am Samstag feierte „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ Premiere am Deutschen Theater. Live und Open Air – aber auch kühl und feucht war es.
Das fühlt sich jetzt schon etwas bescheiden an. Mit FFP2-Maske, Mütze, Regenjacke, Wolldecke über den Knien und Regenschirm über der Wolldecke bei leichtem Niesel und 14 Grad auf einem Stühlchen im Freien zu hocken, um durch die beschlagenen Brillengläser „endlich wieder Theater live zu erleben“. Das Publikum hat sich seiner Freude darüber gegenseitig vergewissert, 130 Menschen nur durften kommen zur ersten Open-Air-Premiere des Deutschen Theaters am Beginn der Lockerungen.
Der Intendant Ulrich Khuon hat gesprochen und erzählt, wie das Haus diesem Moment entgegengefiebert und weitergearbeitet habe, damit man gleich, als es wieder möglich ist, starten kann, auf dem Platz vor dem Haus. Auch innen toben, ohne Publikum, so grotesk ist das gerade, Schauspieler über die Bühne, für einen Livestream, „Der Zauberberg“, der an diesem Abend beim Theatertreffen digital läuft. Das klingt alles nach unheilbarer Theaterleidenschaft.
Schon purzeln mit viel Lärm aus Türen und Fenstern die Schauspieler:innen, der kühle Wind zerrt an ihren ausladenden Kopfbedeckungen. „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ steht auf dem Spielplan, Jan Bosse hat den Text von PeterLicht frei nach Molière inszeniert. Auftritt Herr Frau Pernelle (Regine Zimmermann), die auf einem Fahrrad aus dem Portal herausradelt. Und im sich bald entspannenden Wortgefecht mit Blick auf das Publikum mehrmals feststellt, wie „ungeil das hier alles ist“.
Man fühlt sich angesprochen und ertappt, sehr geil wird so eine Masken-, Kapuzen-, Wolldecken- und Schirmbewehrte Zuschauergemeinde für die Spielenden nicht aussehen. Obwohl man weiß, das gehört zum Stück, in dem Orgon (Felix Goeser), „dem das alles hier gehört“, Tochter, Frau und weitere Verwandtschaft damit aufschreckt, in ihre Gemeinschaft einen Neuen einzuschleppen: Tartuffe, der sie alle aus der Welt des Ungeilen befreien soll. Noch wollen sie nicht.
Frei nach Molière, mit Texten von PeterLicht
PeterLichts Text dreht irrsinnige Schlaufen, immer nahe am Nonsens, die sich dann doch um einige ideologische Konstruktionen drehen und dran zerren. Nicht Frömmelei und Heuchelei sind bei ihm, wie es bei Molière war, die Fehler im System, sondern Selbstoptimierungswahn, Anpassung in der Peergroup und Hedonismus als Feiheitsversprechen. Dabei nutzt er eine Sprache, die scheinbar hip ist, durchsetzt von werbenden Floskeln, frei von Nuancen.
Läuft wieder am 28./29./30. Mai, Open Air vor dem Deutschen Theater
Oder auch eine Sprache, die akademisch strapazierte Begriffe umdeutet: Als der „Tüffi“ (Božidar Kocevski) nach mehr als der Hälfte des Stücks endlich im schweinchenrosa Anzug auftaucht und erst mal nur grunzt, geht es darum, dass er die Frauen, Orgons Tochter Marianne (Kotbong Yang) und dessen Frau Elmire (Natali Seelig), „kontextualisieren“ möchte. Was so aussieht: sie tanzen zu südamerikanischen Trommelrhythmen, bis ihre Nase seinen Arsch berührt.
PeterLichts Text ist so auch eine Sprachpersiflage von einer einerseits verkürzenden und andererseits hochgestochenen Sprache, die in beiden Fällen große Chancen hat, tüchtig neben die Realität zu greifen, vieles auszulassen und blinde Flecken zu erzeugen.
Unter dem Motto „Penis als Chance“
Die Dialoge treten dabei oft verzweifelt auf der Stelle, doch das macht nichts. Denn je weniger die Figuren sich verstehen, umso aktionsreicher wird ihr Spiel. Orgon ist nicht zufällig mit einer Narrenkappe ausgestattet. Wie überhaupt die Kostüme, von Kathrin Platz entworfen, einen wilden Mix der Zeichen aussenden, quer durch die Theatergeschichte bis zum Barock von Molières Zeiten.
Der Wind spielte am Premierenabend keine unwesentliche Rolle, als wolle er bekräftigen, he, das ist jetzt echt. Er ließ die langen weißen Tischdecken auf den Stehtischen flattern, unter denen sich irgendwann Orgon und seine Gefolgschaft versteckt haben, weil sie dem Tüffi doch nicht ganz trauen bei seinem Workshop mit Elmire unter dem Motto „Penis als Chance“. Doch als sie seinen Betrug aufzudecken meinen, verkauft er den als Konzept seines Workshops und lässt sie alle zahlen.
Die Energie und der Körpereinsatz des Ensembles sind groß an diesem Premierenabend, ein bisschen Zirkus mit viel Musik; kein Kalauer wird ausgelassen, und Jan Bosse, der Regisseur, lässt den Sprachwitz gerne von gestischen Übertreibungen untermalen. Die Energiekurve des langsam frierenden Publikums hingegen sinkt, tiefer und tiefer rutschen wir in unsere Kapuzen. Am Ende erleichterter Applaus. Resümee: erste Premiere live 2021 gut überstanden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen