Onlinemedium „Kyiv Independent“: Raketen, Recherchen, Raketen
Kurz vor der russischen Invasion in der Ukraine launchte „Kyiv Independent“ und hat sich längst etabliert. Über ein Medium im Dauer-Ausnahmezustand.
An einem Montag Ende November um 11 Uhr wird es eng im Großraumbüro. Die Mitarbeiter:innen aus den anderen Räumen schieben ihre Bürostühle hinein, über einen großen Bildschirm werden Kolleg:innen zugeschaltet, die remote arbeiten. Wie in vielen Redaktionen plant man auch beim Kyiv Independent die Woche in einer gemeinsamen Konferenz. Doch anders als in den meisten kann es hier jeden Moment einen Raketenangriff geben Der Umgang mit dieser Gefahr ist für die Redaktion Routine.
Bei einem Angriff gehen alle zum nahegelegenen U-Bahnhof und arbeiten dort weiter. Heute können sie in der Redaktion bleiben. Am Wochenende noch wurde die ukrainische Hauptstadt zwei Nächte in Folge mit Drohnen attackiert. Kyiv Independent ist das am schnellsten wachsende englischsprachige Medienunternehmen der Ukraine. Dabei wurde es erst im November 2021 gegründet, nur drei Monate vor der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine. 21 Mitarbeiter:innen waren es damals, jetzt sind es um die 50. Das Team ist international, Arbeitssprache ist Englisch. Chefredakteurin Olga Rudenko sagt: „Die zwei Jahre seit der Gründung sind unglaublich schnell vergangen.“ Andererseits wirke es in der Rückschau wie ein anderes Zeitalter. Das liege natürlich am Krieg. „Den haben wir nicht so erwartet und das hat alles geändert.“
Plötzlich musste sie sich nicht nur damit beschäftigen, wie man ein Start-up in einer von Oligarchen geprägten Medienlandschaft aufbaut, sondern mit Evakuierungsplänen, Stromgeneratoren und damit, wie wahrscheinlich ein Nuklearschlag ist. „Ich hatte nicht erwartet, Kolleg:innen an die Front zu schicken.“ Glücklicherweise sei bisher niemand aus dem Team verletzt worden. Trotz allem Schrecken sei auch viel Gutes in dieser Zeit passiert, sagt die 34-Jährige, die ursprünglich aus der weiter östlich gelegen Industriestadt Dnipro stammt. Manche seien resilienter als erwartet. „Wir haben Kolleg:innen, die früher Restaurantkritiken geschrieben haben und nun Kriegsverbrechen recherchieren.“
Unterstützung aus dem Ausland
Die großangelegte Invasion hat dem Kyiv Independent eine Menge Aufmerksamkeit verschafft. In nur drei Tagen wuchs die Zahl der Twitter-Follower von 30.000 auf eine Million. Inzwischen sind es mehr als zwei Millionen. Das hat sich auch finanziell bemerkbar gemacht. „Als wir am 22. November 2021 die Webseite gestartet haben, hatten wir 34 Unterstützer über Patreon“, sagt Rudenko. Patreon ist ein Social-Payment-Anbieter aus den USA. „Heute sind es 8.000.“ Dazu kommen 2.000 Abonnenten, die direkt an den Kyiv Independent zahlen. Zusammen bringe das ungefähr 64.000 Dollar im Monat.
Dazu kommen Einzelspenden, Einnahmen aus Zweitverwertungen von Inhalten und Förderungen für Projekte. Zum Beispiel hat Microsoft einen Dokumentarfilm über Kriegsverbrechen gesponsert, und von der Unesco wurden Fördermittel für die Fortbildung ukrainischer Journalist:innen eingeworben. Bei der Gründung wurde Kyiv Independent von der Londoner Beratungsfirma Jnomics unterstützt. Außerdem half ein Zuschuss von rund 150.000 Euro von der kanadischen Regierung.
Gerade ist Rudenko aus Köln zurückgekehrt, wo sie und zwei weitern ukrainische Journalistinnen den Hanns-Joachim-Friedrichs-Sonderpreis verliehen bekommen haben. Auszeichnungen haben sie und Kyiv Independent schon einige bekommen. Im Mai 2022 war sie auf dem Cover des Time Magazine abgebildet. „Einen Krieg bezeugen“, steht daneben. Und dass ihr Medium eine weltweite Nachrichtenquelle sei. „Diese Preise haben wir nicht erwartet, so neu, wie wir sind“, sagt sie. „Wir sehen das als Verpflichtung an.“ Ihr nachzukommen bedeutet, Hindernisse überwinden zu müssen.
In den zwei Jahren habe es drei riskante Momente für das Projekt gegeben: die Gründung selbst, den Beginn der Invasion im Februar 2022 und den Sommer und Herbst vergangenen Jahres, als sie gefühlt hätten, dass sie sich etabliert haben. „Es wäre gefährlich gewesen, sich drauf auszuruhen.“ Rudenko will das Profil des Mediums mit investigativer Recherche schärfen. In einer Serie von Veröffentlichungen deckte das Team im Sommer 2022 Selbstmordmissionen, Missbrauch und körperliche Bedrohungen in der Internationalen Legion auf. Die Truppe wurde wenige Tage nach Beginn der Invasion gegründet, um auch ausländischen Soldat:innen die Möglichkeit zu geben, den ukrainischen Streitkräften beizutreten.
Kritisch gegenüber der Regierung
Diese Berichterstattung war in Kriegszeiten ein gesellschaftlicher Tabubruch und wurde doch von großen Teilen des Publikums bejubelt. „Das Thema hat unsere Werte auf die Probe gestellt“, erinnert sich Rudenko. „Aber wir sind keine Verlängerung der Regierungs-PR.“ Ohnehin hat auch Rudenko persönlich mit Kritik an Präsident Wolodimir Selenski nicht gespart: In einem Beitrag für die New York Times, der wenige Tage vor der großen Invasion Russlands in die Ukraine veröffentlicht wurde, attestierte sie ihm unzulängliche Bekämpfung der Korruption und falsche Prioritäten bei öffentlichen Investitionen.
Die kritische Distanz zur Macht hat auch etwas mit einem Skandal zu tun, der der Gründung des Kyiv Independent vorausging: Adnan Kivan, ein schwerreicher Bauunternehmer, kaufte 2018 die traditionsreiche, englischsprachige Wochenzeitung Kyiv Post und wollte in der Folge seinen Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen durchsetzen. Als die Redaktion protestierte, entließ er über Nacht das gesamte Team und stellte die Zeitung ein. Ihr Kern gründete die Kyiv Independent.
Einer von denen, die für den Kyiv Independent von der Front berichten, ist Francis Farrell. Der 26-Jährige Australier ist eigentlich Dokumentarfotograf und kannte die Ukraine schon aus einer Tätigkeit für die OSZE und den Europarat. „Eine Woche vor der Invasion bin ich angekommen. Das ist mein erster Job im Journalismus.“ Er fühle sich in der Ukraine zu Hause. Und der Job beim Kyiv Independent sei für ihn das perfekte Match. „Sie haben mir vertraut und ich weiß das zu schätzen.“
Ungefähr einmal im Monat fahre er in das Kampfgebiet. Das erste mal im Herbst 2022 im Donbas. „Ich habe mit den Soldaten gesprochen, wir wurden mit Artillerie beschossen.“ Die Rückkehr sei jedes Mal ein seltsamer Moment. Für die Soldaten sei der Kontrast zum zivilen Leben in Städten wie Kyjiw natürlich noch größer. Es sei normal, dass die Menschen hier auch mal Spaß haben wollen. „Problematisch wird es, wenn sie den Krieg vergessen und nicht mehr helfen.“ Auch deshalb sei es für ihn wichtig, sich als Fotojournalist selbst ein Bild zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett