Olympiasieger Edwin Moses: „Weil ich die Dinge anders sehe als viele Trainer“
Edwin Moses revolutionierte den 400-Meter-Hürdenlauf. Der Olympiasieger über sein Leben, den Kampf gegen Doping und Rassismus.
taz: Herr Moses, Leichtathletik ist olympische Kernsportart. Vor Jahren waren die Golden-League-Meetings große Veranstaltungen. Heute stehen andere Sportarten im Fokus.
Edwin Moses: Als ich noch lief, war Leichtathletik eine der meist respektierten Sportarten der Welt. Die Stadien waren voll. Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist. Denn im Laufe der Jahre gab es viele bedeutende Athleten wie Michael Johnson und Usain Bolt. Ich bin jedenfalls glücklich, dass ich in den goldenen Zeiten gelaufen bin.
geboren 1955 in Ohio, stellte vier Weltrekorde im 400-Meter-Hürdenlauf auf und blieb zwischen 1977 und 1987 unbesiegt. 1976 und 1984 wurde er Olympiasieger, 1983 und 1987 Weltmeister. Das Biopic „13 Steps“ über sein Leben läuft zurzeit im Kino.
taz: Sie wurden 1976 und 1984 Olympiasieger. Wären Sie 1980 in Moskau gelaufen, als die USA die Spiele boykottierten, hätten Sie wohl auch dort Gold geholt. Wie ging es Ihnen damals?
Moses: Ich habe den Lauf nicht im Fernsehen gesehen, er wurde in den USA nicht übertragen. Es war schlimm, nicht dabei zu sein. Ich bin kurz vor den Spielen von Moskau mit 47,13 in Mailand neuen Weltrekord gelaufen, also 1,57 Sekunden schneller als der Olympiasieger von 1980, Volker Beck aus der DDR. Aber so ist das Leben. In der Geschichte gibt es viele Dinge, die keinen Sinn ergeben.
taz: Sie lebten in den 80ern in West-Berlin. Waren Sie mal in Ost-Berlin?
Moses: Viele Male, über den Grenzübergang Checkpoint Charlie. Mit meiner damaligen Frau aus West-Berlin waren wir ab und zu in einer Bar in Ost-Berlin. Sie war Künstlerin und kannte sich gut aus. Unsere Wohnung in Berlin-Rudow war etwa 300 Meter von der Mauer entfernt. Ich lief immer an der Westseite entlang. Viele Jungs in der Nachbarschaft wussten, wer ich war, und riefen meinen Namen.
taz: Sie sind damals auch oft im Ostblock gestartet. Warum?
Moses: Amerikaner traten dort kaum an, aber ich fand es wichtig, an Orten hinter dem Eisernen Vorhang zu laufen, wo man mich nicht erwartete.
taz: Der US-Bürgerrechtler Martin Luther King besuchte im September 1964 Ost-Berlin und redete in zwei Kirchen. Wussten Sie das?
Moses: Ich sollte es wissen, habe es aber wohl vergessen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er damals nach Europa gereist war.
taz: Es war eine Möglichkeit, gegen Rassismus zu kämpfen. Im Sport waren Sie, Muhammad Ali und viele weitere die Protagonisten. Wie sieht es heute in den USA mit Rassismus aus?
Moses: Im Alltag kann man Rassismus nur sehr schwer in den Griff bekommen. Es gibt eine Menge davon in unserem Land. Manche Leute glauben, dass sie die Macht und das Recht haben, andere Menschen wie Scheiße zu behandeln. Das ist nie zu akzeptieren.
taz: Sie waren in der 1981 in Baden-Baden beschlossenen Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees. Wie war es für Sie?
Moses: Der IOC-Präsident Samaranch hat mich ausgewählt, weil ich offen über Dopingbekämpfung und Professionalisierung sprach. Ich sollte einst als das Gewissen des olympischen Sports und das Gewissen der Athleten fungieren. Ich konnte sehr kritisch sein. Das hat zu Fortschritten geführt, wie den Dopingkontrollen, die in den USA eingeführt wurden. Außerdem trafen 1981 der Leichtathletikverband und das IOC eine Vereinbarung, die es ermöglichte, den Sport zu professionalisieren. Athleten durften mit Sponsoren Verträge schließen. Dies war vorher nicht erlaubt. 1984 in Los Angeles konnten sie erstmals Geld verdienen.
taz: Sind Sie mit Ihrer Art angeeckt?
Moses: Ich war Wortführer, ich war kein Sportpolitiker. Zwei meiner Kollegen aus dieser Zeit sind heute zwei der mächtigsten Männer im Sport. Thomas Bach und Sebastian Coe leiten das IOC und den Weltleichtathletikverband. Ich wollte nie so sein. Ich weiß, dass Veränderungen von Leuten herbeigeführt wurden, die über den Tellerrand hinaus schauen, die nicht mit allem einverstanden sind und die keine Angst vor Konsequenzen haben, wenn sie ihre Meinung sagen.
taz: In den 1980er-Jahren wurden Sie im Népstadion in Budapest beim Grand-Prix-Meeting vom Publikum immer gefeiert. War es ein Unterschied, ob Sie im Ostblock oder in London und Paris gestartet sind?
Moses: Ja, es war etwas ganz Besonderes. Ich wusste, dass die Menschen wegen der nicht vorhandenen Reisefreiheit mich sonst nie zu Gesicht bekommen würden. Deshalb war ich, glaube ich, neunmal in Budapest, mehr als bei jedem anderen Meeting. In Zürich war ich selten. Ich kam mit dem Hauptorganisator nicht zurecht, und sie wollten mir nicht das zahlen, das ich wert war. Aber ich bin gerne in Prag und Bratislava gestartet. Oder in Warschau, als der Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa die kommunistische Regierung zwang, liberaler zu werden. Ich bin sogar in Belfast gelaufen, als es kaum jemand getan hat. Auch in Taiwan.
taz: Der deutsche Harald Schmid besiegte Sie 1977 beim Istaf in Berlin, bevor Sie fast zehn Jahre ungeschlagen blieben. Später war er hinter Ihnen mehrfach Medaillengewinner bei Olympia und Weltmeisterschaften.
Moses: Harald Schmid hat mich gepusht, ich wusste, dass er sehr schnell laufen kann. Das gilt auch für meine Landsleute Danny Harris und Andre Phillips, die mich am Ende meiner Karriere besiegt haben.
taz: Waren Sie befreundet?
Moses: Ich stand eigentlich niemandem, gegen den ich lief, persönlich nahe. Ich wollte nicht mit Leuten befreundet sein, gegen die ich antrete. Vielleicht sind sie im 100-Meter-Lauf ein bisschen kameradschaftlicher als wir im 400-Meter-Hürdenlauf.
taz: Vor Jahren berieten Sie den Norweger Karsten Warholm, Olympiasieger von Tokio 2021. Seit Juli 2021 hält er den Weltrekord von zunächst 46,70 Sekunden, den er im August 2021 auf 45,94 verbesserte. Wie groß war Ihre Leistung daran?
Moses: Ich würde mir das nicht anrechnen lassen, aber ich weiß, dass es für ihn und seinen Trainer hilfreich war. Als ich ihn das erste Mal traf, lag er bei 48,3 oder 48,6 Sekunden. Ich habe ihn nie im Alltag gecoacht, eher philosophisch. Wenn man über den Sinn des Laufens spricht, ist das für jeden gut. Ich habe in den letzten fünf Jahren mit einigen der besten Sportlerinnen gearbeitet, sie haben sich alle verbessert. Weil ich die Dinge anders sehe als viele Trainer. Manchmal erkläre ich ihnen Dinge, von denen sie vorher nie gehört hatten. Angeben will ich damit aber nicht.
taz: Sie selbst sind viele Jahre ohne Trainer gelaufen?
Moses: Ich hatte anfangs einen Trainer in der Highschool und dann zwei Jahre lang einen im Morehouse College in Atlanta. Danach habe ich mehr als zehn Jahre mein Training selbst gesteuert. Es hat ganz gut funktioniert.
taz: Was sagen Sie zum Thema Doping? Die Testprogramme sind präziser als vor 30 Jahren.
Moses: Die Wissenschaft und die Technik sind sehr viel besser geworden, aber es bleibt ein Katz-und-Maus-Spiel. Was sich am positivsten auswirkt, ist die Art, wie Analysen heute durchgeführt werden. In den Achtzigerjahren stand ein Mann mit Reagenzgläsern im Labor. Jetzt nimmt man den Urin, gibt ihn in die Maschine, und alles ist computergesteuert. Da kann man viele Substanzen nachweisen. Andererseits gibt es heute wahrscheinlich doppelt so viele Medikamentenkategorien und Drogen wie früher. Die Herausforderung besteht zudem darin, kleine Mengen zu finden, weil Betrüger mikrodosieren. Es wird immer Athleten geben, die sich nicht abschrecken lassen. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die alles tun würden, um Olympiasieger zu werden.
taz: Sie waren viele Jahre auch in der Usada, der nationalen Antidopingagentur, engagiert. War es schwer, den einst 7-fachen Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong wegen seines massiven Dopingbetruges zu überführen?
Moses: Theoretisch nicht, die Daten lagen vor. Andere Leute behaupteten, dass alles, was wir bei der Usada hatten, nicht ausreicht oder dass wir ihren Forschungen nicht glauben oder dass sie der Prüfung in einem Gerichtssaal nicht standhalten würden. Es war ein schwieriger, langwieriger Fall. Wir bekamen viele Hassmails und Morddrohungen, aber es hat die Art verändert, wie Leute die Dopingbekämpfung sehen. Niemand steht über dem Gesetz. Die meisten Menschen haben keine Ahnung, was hinter den Kulissen vor sich ging. Die Wahrheit hat letztlich gesiegt. Das war wichtig.
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