Olympia in Tokio: Hochamt der Muskelreligiösen
Warum die Olympischen Sommerspiele unverzichtbar sind für eine Sportgemeinde, die einen Ausweg aus dem Verbotsparadigma sucht.
E s ist derzeit schwer angesagt, all das, was Spaß und Zerstreuung verspricht, unter Verdacht zu stellen. Das Vorsorgeprinzip beherrscht staatliches Handeln, Szenarien eines dräuenden Unheils befeuern die Exekutive beim allmonatlichen Verfassen neuer Rechtsverordnungen. Der hygienische Alltag und die Coronaprophylaxe sind im gesellschaftspolitischen Kartenspiel Ober und Unter, Abwehrrechte gegen den Staat zumeist nur die Luschen, die im Spiel der Inzidenzen vor allem dazu dienen: abwerfen und Farbe bekennen.
In diesem Klima eines gedämpften Dahinlebens unter aseptischen Bedingungen, das schon seit Monaten Normalität als etwas Fernes, ja geradezu Unerreichbares markiert, muss natürlich das Ansinnen, ein sportliches Großereignis wie die Olympischen Sommerspiele durchzuführen, als unerhört, dreist und unverantwortlich aufgefasst werden: How dare you!
Kein Wunder also, dass ein Autor in der New York Times gerade die Olympischen Spiele, ja die gesamte olympische Bewegung unter Generalverdacht gestellt hat. Er schreibt im Duktus eines Untergangspredigers: „Die Spiele von Tokio könnten ein dreiwöchiges Superspreader-Event werden, das in ganz Japan und weit darüber hinaus zu Tod und Krankheit führt.“ Das Event sei ferner viel zu teuer, der Markenkern beschädigt, kurzum: „Die olympische Mission ist ein Chaos, das langfristig repariert werden muss.“
Am besten, man machte den Laden komplett dicht: Lockdown für die Spiele, Ausgangssperre für ein Internationales Olympisches Komitee, das ohnehin nur dem Mammon frönt. Und um den Gedanken des besorgten Kollegen weiterzudrehen: Ist eine dauerhafte Digitalisierung des Wettkampfs nicht unumgänglich, die Vertagung physischer Auseinandersetzungen in eine Zeit des antiviralen Triumphs? Ist ein analoges Olympia des Teufels?
„Tendenz zum Exzess“
Nein, die Spiele, über die der Kollege zu Gericht sitzt, haben keine Gnade verdient, denn sie „sind heute ein Synonym für einen Skandal vieler Arten einschließlich Doping, Bestechung und körperlicher Misshandlung von Sportlern“. Das ist natürlich nicht ganz falsch. Das IOC war in vielerlei Hinsicht kein leuchtendes Beispiel, und schon der selige Baron de Coubertin musste einräumen, der olympische Leistungssport trage die „Tendenz zum Exzess“ in sich.
Aber es scheint doch derzeit wieder en vogue zu sein, mit rostigen Bazookas auf Olympia zu schießen – und dabei eine Sportlerin zu treffen, die zuletzt vorzugsweise damit beschäftigt war, ihre Form auf dem Hometrainer zu konservieren. Störend an der auch in deutschen Medien beliebten Fundamentalkritik an Olympia ist nicht die Substanz, sondern ihre Maßlosigkeit, die Unlust am differenzierten Urteil, die dem Geist manichäischer Sektierer zu entspringen scheint.
In dieser Welt werden Daumen gesenkt oder gehoben, sind Funktionäre böse – oder nicht von dieser Sportwelt. Dabei soll es tatsächlich Millionen von Menschen geben, die sich auf Olympia freuen. Ohne all die Immobilienspekulanten und anderen Belzebuben im Dunstkreis der Ringe exkulpieren zu wollen, richten die Olympioniken den Blick nach vorn. Die (ausgesperrte) Fangemeinde ist riesig.
Hekatomben dürsten nach Monaten des vorbehaltlichen Sports nach diesem Event, das unverkitscht eine sakrale Strahlkraft entwickelt, einen Sog des Unmittelbaren, der selbst Sportmuffel in sich hineinzieht. Aus der „Muskelreligion“ des Olympismus leitet sich ein quasireligiöses Heilsversprechen ab. Dieses Ritual, dem katholischen Budenzauber durchaus artverwandt, muss den Adepten des Verzichts naturgemäß übel aufstoßen.
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