Offener Vollzug für Sicherungsverwahrte: Nicht drinnen, nicht draußen
Seit drei Jahren gibt es in Tegel das in Deutschland einmalige Projekt. Doch bislang sind nur wenige Männer dort untergebracht, die Hürden sind hoch.
Das Bild hängt in einem Gruppenraum in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Das rotbraune Backsteinhaus in der Seidelstraße 34 ist zwar hinter einem gusseisernen Tor gelegen, aber noch vor den Mauern des eigentlichen Gefängnisses. Die Abteilung ist genau drei Jahre alt und einmalig in Deutschland: Es ist der offene Vollzug der Sicherungsverwahrung. Hier werden Insassen im letzten Schritt auf ihre Entlassung vorbereitet.
In die Sicherungsverwahrung kommt, wer seine Haftstrafe abgesessen hat, aber weiter als so gefährlich gilt, dass er nicht auf die Gesellschaft losgelassen werden soll. Das sind derzeit bundesweit über 600 Männer und kaum Frauen. Zwei Drittel von ihnen sind ehemalige Sexualstraftäter, die mehr als einmal straffällig geworden waren. Auch Mörder, Bankräuber und Brandstifter sind darunter. In Berlin sind in der Männerhaftanstalt Tegel derzeit 45 Sicherungsverwahrte untergebracht.
Vor der Eröffnung des offenen Vollzugs hatte es Proteste gegeben: Anwohner*innen hatten Angst um ihre Kinder. 5.000 Unterschriften haben sie gesammelt. Verhindern konnten sie die Einrichtung nicht. Die hat insgesamt acht Plätze. Wäre sie von Anfang an voll belegt gewesen, dann hätten bei einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten rein rechnerisch 16 Männer pro Jahr, in drei Jahren also 64 Männer durchgeschleust werden können. Doch so viele Verwahrte hat Tegel gar nicht, und schon gar nicht so viele, die Behörden und Justiz für geeignet halten.
Perspektive auf Freiheit
Tatsächlich waren seit Anfang 2021 lediglich sieben Männer im offenen Vollzug untergebracht. Das hat eine Recherche der taz ergeben. Nur zwei wurden daraus entlassen. Verwahrte, aber auch Anwält*innen und Hilfsorganisationen klagen seit Jahren, dass es immer schwieriger wird, jemals wieder aus der Sicherungsverwahrung entlassen zu werden. Viele Insassen sterben hinter Gittern. In den offenen Vollzug verlegt zu werden, erscheine ihnen nahezu unerreichbar, berichteten mehrere Sicherungsverwahrte der taz.
Lars Hoffmann, Leiter der Sicherungsverwahrung in der JVA Tegel, nennt den offenen Vollzug den „missing link“ – das bisher fehlende Glied zwischen „Drinnen“ und „Draußen“. Die Männer stehen mit einem Bein schon in Freiheit, leben aber noch in der gewohnten Umgebung und haben weiterhin die ihnen seit Jahren bekannten Ansprechpersonen.
An der Haustür des Zweistöckers wacht eine Videokamera. Eine halbe Treppe mit braunem Geländer und Treppenlift führt ins Hochparterre. Dort sitzt ein Strafvollzugsbeamter hinter Monitoren und hat Kamera und Haus im Blick. Ein paar Grünpflanzen im Treppenhaus sollen für eine heimelige Atmosphäre sorgen. Auf drei Etagen gibt es je zwei bis drei Zimmer.
Wer in den offenen Vollzug kommt, soll nicht lange bleiben, innerhalb weniger Monate Wohnung und Arbeit finden und bei Entlassung alleine zurechtkommen. So die Theorie.
Wiedereingliederung ist schwierig
Tatsächlich wurden von den sieben Männern, die seit dem 30. Januar 2021 in der Seidelstraße 34 untergebracht waren, nur zwei entlassen. „Bei drei Personen musste aufgrund individueller Verfehlungen die Eignung für den offenen Vollzug widerrufen werden“, sagt Leiter Lars Hoffmann der taz. Die „Verfehlungen“ waren jedoch nicht solche, vor denen die Nachbar*innen Angst hatten, sondern unter anderem Alkohol- oder Drogenkonsum. Einer ging außerdem nicht zum angemeldeten PC-Kurs.
Aktuell wohnen zwei Männer hier. Einer der Bewohner, nennen wir ihn Martin T., ist 83 Jahre alt. Er könnte längst draußen leben, will aber nicht entlassen werden. So etwas kommt vor: So sehr die einen rauswollen, so wenig können sich andere vorstellen, wieder ein normales, eigenständiges Leben zu führen.
Immerhin haben sie ihr halbes Leben hinter Mauern verbracht, wo alles, von der Weckzeit über die Nahrungsaufnahme bis hin zur Zimmereinrichtung, fremdbestimmt ist. Und wo sie es vor allem mit anderen ehemaligen Straftätern zu tun haben und die Kontakte nach außen mit der Zeit immer mehr abnehmen.
Martin T. weiß, wie er eine Entlassung verhindert: Bei Anhörungen sagt er, sollte man ihn entlassen, würde er direkt wieder eine Straftat begehen – um zurück in die JVA zu kommen. Also lässt man ihn drinnen.
Hohe Hürden
Bald könnte er neue Mitbewohner bekommen: Drei Verwahrte im geschlossenen Vollzug seien gerade in der „Pipeline“, warteten also darauf, im Laufe des ersten Quartals in den offenen Vollzug verlegt zu werden, sagt Hoffmann. Damit sie überhaupt dafür in Betracht kommen, müssen einige Kriterien erfüllt sein: mehrere Jahre erfolgreich abgeschlossene Therapien, in denen sie ihre Taten eingestehen, Reue zeigen und Verhaltensweisen erarbeiten müssen, um nicht in alte Muster zu verfallen.
Von Beginn an stehen ihnen per Gesetz vier begleitete Ausführungen pro Jahr zu. Die Sicherheitsvorkehrungen sind am Anfang strikt und können mit der Zeit angepasst werden: weniger Begleitbedienstete, Wegfall möglicher Fesselung etwa. Erst nach externem Gutachten und der Zustimmung durch die Senatsverwaltung für Justiz sind in Einzelfällen Ausgänge ohne Begleitung möglich. Von diesen müssen die Männer „pünktlich, nüchtern und ohne Drogen“ zurückkommen, sagt Hoffmann.
Wenn dann der oder die zuständige Psycholog*in sowie ein*e Sozialarbeiter*in die Verlegung befürworten, braucht es noch einmal ein Gutachten und die erneute Zustimmung der Senatsverwaltung, um schließlich in den offenen Vollzug verlegt werden zu können – viele Hürden also.
Zu hohe Hürden, finden mehrere Verwahrte, mit denen die taz gesprochen hat. Einer spricht von „exorbitanten Anforderungen“. Gleichzeitig nennt er den offenen Vollzug eine „Farce“: Wer geeignet für den offenen Vollzug sei, müsse auch geeignet sein, entlassen zu werden, findet er. Ein anderer kritisiert, es sei fast unmöglich, bei einer Verwahrung unter fünf Jahren vom Gericht eine Begutachtung gewährt zu bekommen, um überhaupt die Chance zu haben, als geeignet eingestuft zu werden. Hoffmann widerspricht beidem: Es komme immer auf den Einzelfall an.
Verschärfung durch Fluchtversuch
Nun ist bei den Verwahrten eine neue Sorge hinzugekommen. Sie fürchten, dass Lockerungen eingeschränkt werden und es damit noch schwieriger wird, in den offenen Vollzug zu kommen. Der Grund: Trotz all der Sicherheitsvorkehrungen ist es einem Verwahrten am 6. Februar gelungen zu fliehen. Allerdings saß er nicht im offenen Vollzug, sondern in der geschlossenen Abteilung. Er entkam bei einer begleiteten Ausführung. Drei Tage später wurde er in Schleswig-Holstein gefasst, mittlerweile ist er zurück in Tegel.
Bisher spürten die Verwahrten nur kleine Einschränkungen, sagt einer von ihnen der taz. Aber: „Alle SVler gehen davon aus, dass noch etwas kommen wird.“ Lockerungen könnten strenger bewacht werden, „Ausgänge wegen Personalmangels auf einmal ausfallen“.
Tatsächlich seien „aus Anlass des konkreten Falles zusätzliche Sicherheitsebenen eingezogen“ worden, sagt Hoffmann. Das bedeute aber nicht, per se Lockerungen für alle Verwahrten einzuschränken. Stattdessen sollen sich die Behandelnden regelmäßiger austauschen. Auch die Vorgaben zur Dokumentation seien angepasst worden. Hoffmann bleibt aber dabei: „Die Frage der Verlegung in den offenen Vollzug oder die Frage der Entlassung werden weiterhin alleine an die persönliche Eignung des jeweils betroffenen Untergebrachten geknüpft.“
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