Öko-Diktatur: Das deutsche Gespenst
Kaum geht es mit der Energiewende los, packt der konservativ-fossile Komplex das Totschlagargument aus. Neigen Umweltschützer zu totalitärem Zwang?
Am 27. März 2011 erlebte Egon Vaupel aus Marburg einen Triumph, den seine angeblichen Amtskollegen Idi Amin und Josef Stalin nie genießen konnten: Deutschlands "Ökodiktator" wurde als SPD-Bürgermeister einer rot-grünen Koalition mit großer Mehrheit im Amt bestätigt. 60 Prozent der Marburger leben offenbar gut mit dem Ökoterror.
Vaupels Karriere vom Dorfschulzen zum "Diktator" sagt wenig aus über die ökologischen Zwangsmaßnahmen in der Universitätsstadt Marburg, aber viel über den Zustand Deutschlands. Denn was Rot-Grün in Marburg beschlossen hatte, ist eine "Solarsatzung", die Bauherren bei der Renovierung ihrer Hausdächer vorschreibt, Solaranlagen aufs Dach zu setzen - eine Investition für weniger CO2-Ausstoß und geringere Heizkosten, die sich in zehn Jahren amortisieren soll. Alles ordentlich deutsch durchs Stadtparlament gebracht, alles juristisch geprüft, alles mit Ausnahmeregeln und Zuschüssen abgepuffert. Trotzdem schäumte die bürgerliche Opposition von der "Ökodiktatur" und die Zeit übernahm diese Diktion.
Denn ein Gespenst geht um in Deutschland: die Ökodiktatur. Atomausstieg, Energiewende und grüne Erfolge an der Wahlurne (nicht etwa auf den Barrikaden) sorgen dafür, dass ein Zombie der Anti-Ökos wiederbelebt wird: die angebliche Neigung zu autoritärer Durchsetzung ökologischer Glaubenssätze, die angebliche Abschaffung bürgerlicher Freiheiten, die angebliche totale Machtübernahme der weltfremden Ökospinner.
In einer Mischung aus rationalen und irrationalen Ängsten entdecken Politiker, Journalisten und Wirtschaftsführer ihre tiefe Abneigung gegen jede Form staatlichen Eingriffs und politischer Vorgaben für eine nachhaltige Zukunft - ohne sich zu erinnern, dass ihnen etwa bei der beschleunigten Planung von Autobahnen oder bei den verlängerten Akw-Laufzeiten im Herbst 2010 die Basisdemokratie längst nicht so sehr am Herzen lag.
Schirrmacher, zu Hilfe!
Aber nun greifen sie zum großen Knüppel. "Ökodiktatur" lautet der Vorwurf von RWE-Chef Großmann an die Bundesregierung, das Gleiche kommt von der übrigen Atomlobby, der Tagesspiegel wähnt uns auf dem Weg zur "jakobinischen Ökodiktatur" und Springers Welt macht gleich eine ganze Debattenreihe dazu. Sie alle bezeichnen damit nicht etwa Normen, die gegen die Verfassung verstoßen, sondern Gesetze und Verordnungen, die öffentlich diskutiert und parlamentarisch abgestimmt werden und gegen die vor deutschen Gerichten geklagt werden kann.
Und dem neuen grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der auf Bürgerlichkeit und Rechtsstaatlichkeit größten Wert legt, wirft die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vor, er ziele gemeinsam mit der Bundesregierung auf eine "herzliche Ökodiktatur". Das Fachblatt für das humanistisch gebildete Bürgertum erklärt sogar, diese "Ökotyrannei in Deutschland stützt sich auf eine große Mehrheit". Moment mal: War die Tyrannei nicht eine brutale Alleinherrschaft gegen den Willen des Volkes? Wo ist eigentlich Frank Schirrmacher, wenn man ihn mal braucht?
Diese Kritiker greifen zu einem beliebten Trick, um ökologischen Fortschritt zu diffamieren. Denn die Ökodiktatur wurde von ihren Gegnern schon mehrfach proklamiert: Bei der Bekanntgabe der EU-Klimaziele ebenso wie bei der Einführung der Energiesparbirne oder beim Dosenpfand. Immer stand natürlich die Existenz unserer Demokratie auf dem Spiel, immer hat sie trotzdem irgendwie überlebt. Kein Wunder: Schließlich ist die Ökodiktatur nur ein Popanz der Anti-Ökos ohne Substanz, Theorie oder Verankerung. Niemand will sie, nur für ihre Gegner ist sie sehr praktisch.
Anders als Marxens und Lenins "Diktatur des Proletariats" stützt sich die grüne Diktatur weder auf eine Theorie noch auf eine reale Machtbasis auf der Straße. Die ernsthaften Versuche am linken und rechten Rand des politischen Spektrums, eine Ökodiktatur zu fordern und zu rechtfertigen, sind marginal geblieben und schnell verkümmert. Wolfgang Harich in der DDR oder Herbert Gruhl in der Gründungsphase der Grünen sind Beispiele, wo ökologisches Gedankengut mit dem Totalitarismus geflirtet hat. Keines dieser Gedankenspiele ist über die Studierzimmer hinausgegangen. Zu abstrus waren die Vorstellungen für reale Politik, zu gering der Problemdruck, zu groß die Angst vor dem verbotenen Wort "Diktatur".
Dieses gut gepflegte Feindbild ist irrational, weil es so tut, als wären wir morgen alle 100 Prozent bio - dabei ist unser ökologischer Fußabdruck immer noch so groß, dass das Klima, die Artenvielfalt und eine gerechte Welt unter ihm verschwinden. Aber die Angst vor einer Machtverschiebung Richtung Grün ist durchaus berechtigt. Denn inzwischen wandelt die Konsensdemokratie Deutschland mit Atomausstieg und Energiewende auf grünen Spuren, und die alte Lobby von Industrie und Energieunternehmen bekommt plötzlich keine Vorzugsbehandlung mehr im Kanzleramt. Der alten Machtelite des fossil-konservativen Komplexes schwimmen die Felle weg, weil sie auf die drängenden Fragen der Zukunft keine besseren Antworten haben als die Ökos sie schon seit Jahrzehnten formulieren.
Eine zweite begründete Sorge der Öl- und Kohlefans ist der Verlust der gesellschaftlichen Hegemonie. Wer wie die FAS warnt, "Porschefahrer, Fernreisende, Fleischesser, keiner kann mehr sicher sein", der sieht seine Lebensweise gefährdet. Aber in das Geschrei um die Ökodiktatur mischt sich auch die Einsicht, dass gerade neue Werte verhandelt und alte entsorgt werden: Eine Enquetekommission mäkelt am heiligen Gral "Wirtschaftswachstum" herum; "Freie Fahrt für freie Bürger" ist kein Slogan mehr, mit dem sich Autos verkaufen lassen; und die Rede von glücklichen Kühen führt selbst in der CDU-Kantine nur zu Hohngelächter.
In den wütenden Attacken auf die angebliche Ökodiktatur steckt auch das schlechte Gewissen der wertekonservativen Klientel: Ja, verdammt, die Müslis hatten recht bei den Warnungen vor der Atomkraft; sie hatten recht bei ihrer Kritik an Massentierhaltung, Rohstoffvergeudung und unverantwortlicher Wirtschaftsweise.
Auch deswegen hat sich abseits der Diffamierungen inzwischen eine ernsthafte Debatte über so etwas wie die "Ökodiktatur" entwickelt. Immer mehr Experten fragen sich, ob die parlamentarische Demokratie mit Klimawandel, Artenschwund und Ressourcenhunger überhaupt zurechtkommen kann. Wenn Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber warnt, der Klimawandel sei bald nur noch "im Rahmen einer Kriegswirtschaft" beherrschbar; wenn Günter Grass vor der "Ökodiktatur" warnt oder Thomas Friedman, Journalist der New York Times, träumt, die USA könnten nur einen Tag lang so sein wie China (sprich: ohne das träge demokratische System), dann sprechen nicht Menschen, die autoritärer Tagträume verdächtig sind - sondern Experten, die sich den Perspektiven der ökologischen Katastrophen stellen.
Denn tatsächlich haben unsere kurzatmigen parlamentarischen Systeme keine Lösungen für Probleme anzubieten, für die es einen langen Atem braucht. Die UN, die EU und auch die Bundesrepublik sind Weltmeister darin, die Gefahren für die Zukunft wissenschaftlich zu begutachten und Beschlüsse zu fassen.
Doch in der Umsetzung dieser Beschlüsse scheitern sie regelmäßig an ihren eigenen Vorgaben: Die UN will den Klimawandel auf zwei Grad begrenzen, schafft aber keine Emissionsreduzierungen; die EU wollte das Artensterben bis 2010 stoppen und hat mangels Zielerreichung diese Frist einfach um zehn Jahre verlängert. Deutschland hat eine umfassende Strategie zur Nachhaltigkeit verabschiedet, kommt aber bei vielen Faktoren einfach nicht voran. Das ist alles kein Zufall: Global gesehen ist die parlamentarische Demokratie sogar ein Ökokiller ersten Rangs. Denn gerade die Länder mit entwickelten Demokratien - hauptsächlich die Industrienationen - sind für die schwersten Umweltzerstörungen verantwortlich.
Trotzdem ist eine Ökodiktatur kein Ausweg. Und zwar aus einfachen Gründen: Erstens will sie niemand; zweitens funktioniert sie nicht, denn für die Auswege aus der Ökokrise sind Erfindungsgeist, Beweglichkeit und Mut nötig, die in einer Demokratie viel besser gedeihen. Und drittens ist die Diktatur nicht nötig, denn es gibt Besseres: die Ökokratie - eine Fortentwicklung der Demokratie, die die physikalischen Grenzen des Überlebens anerkennt.
Natur ist Diktatur
Schließlich leben wir schon lange in der Ökodiktatur, worauf Reiner Metzger (taz vom 15. 6.) hingewiesen hat: Mit der Natur kann man nicht verhandeln, sie richtet sich nicht nach Mehrheit und Abstimmung. Deshalb ist auch die Definition der Nachhaltigkeit falsch, nach der ökologische, ökonomische und soziale Ansprüchen gleich wichtig sind. Wer den Vorrang der Ökologie verneint, stellt die Grundlagen des Lebens zur Disposition.
Der Vorrang für das Überleben hat nichts mit Diktatur zu tun, sondern ist eine rationale Güterabwägung. Daraus folgen aber neue Definitionen. "Freiheit" etwa ist mehr als ökonomischer Liberalismus, sie kann auch im Verzicht liegen: Freiheit von Verkehrsstau und vom Billigschnitzel, Freiheit von der Angst vor dem atomaren GAU. Die Entkopplung von Freiheit und Wirtschaften ist noch wichtiger als die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch. "Fahrverzicht für freie Bürger" wäre ein Slogan, der diese neue Form von Freiheit auf den Punkt brächte.
Was aber tun mit denen, die diese Art von Freiheit nicht wollen? Kommt dann die Ökopolizei, um den Müll durchzuschnüffeln? Keineswegs: Die Ökokratie hat weitaus bessere Instrumente als die Ökodiktatur: Sie kann werben, überzeugen und die Gesellschaft weiter ergrünen lassen. Sie kann eine "Zukunftsbank Europa" (ZBE) gründen, die etwa EU-weit für die ökologische Stabilität das leistet, was derzeit die EZB für die Stabilität der Finanzmärkte tut: Subventionen verteilen, Gelder streichen, belohnen und strafen. Und sie kann das tun, was Demokratie ausmacht: Mehrheiten organisieren, Gesetze beschließen und durchsetzen. Und immer wieder klar machen, dass das nicht die Diktatur ist, sondern der tägliche Kampf um unsere Zukunft, und dass man diese Begriffe nicht durcheinander bringen sollte.
Oder um es mit Egon Vaupel, dem Marburger "Ökodiktator" zu sagen: "Wenn wir eine Solarsatzung beschließen, reden die Leute von Ökodiktatur. Wenn die Bausatzung aber Autostellplätze zwingend vorschreibt, redet niemand von Stellplatzdiktatur."
Bernhard Pötter: "Ausweg Ökodiktatur? Wie unsere Demokratie an der Umweltkrise scheitert", oekom Verlag, 2010.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter