Obdachlose und Pandemie: Im Bahnhof wär's wärmer
Eine Petition der Berliner Obdachlosenhilfe wendet sich gegen die 3G-Regel im öffentlichen Nahverkehr, die besonders Obdachlose einschränke.
Ohne Ausweisdokumente gibt es keinen digitalen Impfnachweis. Und ohne digitalen Impfnachweis darf auch ein geimpfter Mensch überall dort nicht hin, wo 3- oder 2G-Regelungen gelten. Das mag für Kino, Klamottenladen und Restaurant zu verschmerzen sein. Doch in einem Bereich wird das Leben von Menschen ohne Papiere deutlich massiver eingeschränkt: Seit rund einem Monat gilt in den Fahrzeugen und auf Bahnsteigen des öffentlichen Nahverkehrs 3G.
Piksen da Laut Sozialverwaltung ist eine Impfung in den verschiedenen Impfstellen und Impfzentren Berlins auch ohne Vorlage einer Krankenversicherungskarte oder eines Personaldokuments möglich.
Und dort Impfungen explizit für obdachlose Menschen beziehungsweise Menschen ohne Papiere böten auch die Malteser Ambulanz für Menschen, open.med Berlin und die Caritas Ambulanz an. Außerdem gebe es regelmäßige Impfaktionen an der Kältehilfeeinrichtung der Johanniter in der Ohlauer Straße und in der Ambulanz der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße. Ab dem 7. Januar 2022 soll es auch im Tagestreff im Hofbräuhaus Mitte ein Impfangebot geben.
Eine Petition der Berliner Obdachlosenhilfe richtet sich nun gegen diese Regelung. „Es gibt einen tiefen Einblick in unsere Gesellschaft, dass vor allem obdachlose Menschen da wieder vergessen und ausgeschlossen werden“, sagt Petitions-Initiator Heinz.
Genau genommen sind es zwei Personengruppen, die häufig keine digitalen Impf- oder auch Testnachweise erbringen können: auf der einen Seite illegalisierte Menschen ohne Papiere und ohne Aufenthaltsstatus. Vor der 3G-Regelung reichte ihnen ein anonym zu erwerbender Fahrschein. „Jetzt gibt es Menschen ohne Aufenthaltsstatus, die aus Angst vor Kriminalisierung nicht mehr Bahn fahren“, erzählt Heinz, der ehrenamtlich für die Obdachlosenhilfe arbeitet und nur mit seinem Vornamen genannt werden möchte.
Die zweite Personengruppe sind obdachlose Menschen, die ebenfalls häufig keine gültigen Papiere besitzen – weil sie abgelaufen, verloren oder geklaut sind oder weil sie zur ersten Personengruppe gehören. „Gerade obdachlose Menschen sind aber auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, um Wege zu erledigen“, sagt Heinz. Dabei sind die Bahnhöfe für Menschen ohne Obdach noch viel mehr als ein bloßer Wegpunkt. Sie sind zugleich ein Ort, an dem es zumindest etwas wärmer und etwas sicherer ist. Das Schnorren und Flaschensammeln in und an den Mülleimern auf den Bahnsteigen ist für viele Teil des täglichen Überlebenskampfs.
Dass außer in den Fahrzeugen auch auf den Bahnsteigen der U- und S-Bahnhöfe die 3G-Regelung gelte, sorgt bei Heinz deshalb für besonderen Unmut: „Das richtet sich explizit gegen obdachlose Menschen, wen sollte das sonst betreffen?!“
Bereits Ende November, nach dem Beschluss der bundesweit geltenden 3G-Regelung im öffentlichen Nahverkehr, hatte das Bündnis #BVGWeilWirUnsFürchten in einem offenen Brief einen Runden Tisch gefordert, um gegen die strukturelle Diskriminierung obdachloser Menschen an dieser Stelle vorzugehen. Das Bündnis setzt sich seit Februar 2021 gegen Machtmissbrauch, Diskriminierung und Gewalt durch privates Kontroll- und Sicherheitspersonal in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin ein und befürchtet durch die Kontrolle der 3G-Nachweise eine weitere Bedrohung für obdachlose Menschen. #BVGWeilWirUnsFürchten gehört auch zu den Initiator:innen der jetzigen Petition. Diese richtet sich mit der Forderung nach einer Ausnahmeregelung für obdachlose Menschen nun nicht nur an die zuständigen Minister der neuen Bundesregierung, sondern auch an die neuen Senatorinnen der Berliner Regierung: Bettina Jarasch (Grüne) für Mobilität und Katja Kipping (Linke) für Soziales.
Aus der Mobilitätsverwaltung heißt es zunächst einmal: Die Sicherstellung des Infektionsschutzes in der Pandemie „ist in den Fahrzeugen und auf den Bahnsteigen nicht anders umsetzbar als durch eine allgemeine 3G-Regel“. Wegen der Zwangslage, in die obdachlose Menschen bei kalten Außentemperaturen geraten könnten, seien aber ausdrücklich Bereiche der Bahnhofsanlagen davon ausgenommen. Tatsächlich hatte noch der alte Senat Mitte Dezember nach Protesten nachgebessert und die Betreiber dazu aufgefordert, einzelne Bereiche auf Bahnhöfen und Bahnsteigen als Flächen ohne 3G auszuweisen.
In der Sozialverwaltung verweist man auf die Testmöglichkeiten für obdachlose Personen in Unterkünften und Tageseinrichtungen. Von einem vollständigen Ausschluss aus dem ÖPNV könne daher nicht die Rede sein, so ein Sprecher. „Jedoch wäre es sehr sinnvoll, wenn der Bund die Testverordnung dahingehend ändert, dass für die Bürgertests die Vorlage eines Personaldokumentes nicht notwendig ist.“
Und die neue Sozialsenatorin selbst betont: „Gleich am Tag meiner Ernennung habe ich die Verantwortlichen von BVG und Deutscher Bahn kontaktiert, um das Thema zu besprechen. Ich habe für einen menschlichen Umgang und Fingerspitzengefühl geworben.“ Kipping verweist zudem auf noch in dieser Woche neu entstehende Impfmöglichkeiten für obdachlose Menschen.
Doch das Problem der Impfnachweise bleibt. „Bei der Digitalisierung müssen auch Menschen ohne Papiere von Anfang an mitgedacht werden“, sagt Heinz von der Obdachlosenhilfe. Deshalb fordere die Petition neben einer raschen Ausnahmeregelung, die obdachlosen Menschen den generellen Zugang zu Bahnsteigen und öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglicht, auch, dass soziale Träger für Menschen ohne Papiere allgemein gültige Impfnachweise ausgeben können. Bei Redaktionsschluss hatten bereits über 47.000 Menschen unterzeichnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin