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Bildungspolitik in BerlinNur noch Deutsch, Englisch, Mathe

Initiativen werfen dem Senat vor, mit seiner Kürzungspolitik ganzheitliche Bildung zu gefährden. Sie kündigen Proteste noch vor den Sommerferien an.

Unter dem Motto „unkürzbar“ protestieren Einrichtungen und Initiativen seit Monaten gegen die Haushaltspolitik des Senats

BERLIN taz | Berlin ist ein immer härteres Pflaster für Kinder und Jugendliche – so sieht es der Dachverband Landesjugendring. „Wir können weniger Fahrten mit den Pfadfindern anbieten, wir werden auf einen Teil der Gedenkstättenbesuche verzichten und unsere politische Bildung sowie andere außerschulische Bildungsprojekte zurückfahren müssen“, so ein Vertreter am Dienstagabend bei einem Fachgespräch zu den aktuellen Kürzungen im Bildungsbereich.

Das Gesamtbild wird damit aus seiner Sicht immer dramatischer: „Kinder wachsen unter schlechteren Bedingungen auf. Sie sind ja nicht nur von Kürzungen in Bildungsprojekten betroffen, sondern auch von denen in anderen Bereichen: etwa, dass der Senat weniger Radwege fertigstellt und bei Schulgebäuden Abstriche macht.“ Das sei „einer Stadt wie Berlin nicht würdig“.

Der Landesjugendring ist ein weiteres Beispiel dafür, wie stark die Einsparungen der aktuellen Haushaltsplanung die Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen einschränken. Dabei treffen die Kürzungen oft diejenigen besonders, die ohnehin schon belastet sind durch Armut, Flucht, Probleme in der Familie oder prekäre Wohnlagen.

Die Linke hat Initiativen und Bildungsträger zu dem Gespräch ins Abgeordnetenhaus eingeladen, um sich mit Po­li­ti­ke­r*in­nen über den „Schwarz-Roten Kahlschlag bei Bildung, Jugend und Familie“ auszutauschen und „Alternativen zum Kürzungschaos“ vorzustellen. Der Gesprächsbedarf ist offensichtlich groß: Rund 85 Mit­ar­bei­te­r*in­nen von Schulen, Kitas und Bildungsinitiativen sind gekommen – eine vergleichsweise große Runde für ein Fachgespräch.

Linke Finanzpolitik

Mittelfristig konsolidieren Um den Kürzungsdruck herauszunehmen, plädiert die Linke dafür, einen ausgeglichenen Haushalt erst in zehn Jahren anzustreben – wenn die Einnahmen die Ausgaben decken könnten. Mit dieser Perspektive wären auch einmalige Ausgaben hilfreich, sagt der finanzpolitische Sprecher der Partei, Steffen Zillich.

Einnahmen steigern Die Linke argumentiert, dass der Senat längst nicht alles ausreizt, um die Einnahmen zu erhöhen, etwa über Schulden, City-Tax und Zweitwohnsitzsteuer. Auch Beschlüsse im Bund zum Sondervermögen böten da neue Spielräume. „Es gibt haushaltspolitisch eine Alternative, der Senat könnte Kürzungsnotwendigkeiten abwenden“, betont Zillich. (usch)

Praxislernen fällt weg

Und diejenigen, die sich zu Wort melden, tun das, um ihrem Frust Luft zu machen. Der Schulleiter einer Integrierten Sekundarschule in Neukölln berichtet, dass bei ihnen Plätze für das Praxislernen an der Werkschule Löwenherz wegfallen. Das Praxislernen ist ein Konzept, bei dem Schüler*innen, denen der klassische Unterricht schwerfällt, sich handwerklich ausprobieren können.

„Darüber haben sich jedes Jahr 10 bis 15 Schüler eine berufliche Perspektive erarbeitet – wenn dieses Programm nun wegfällt, stehen solche Schülerinnen und Schüler am Ende ohne Schulabschluss und Ausbildungsidee da“, sagt der Schulleiter. Er nutzt seine Redezeit, um auch seinen Ärger loszuwerden. „Was richten wir da an? Das ist Raubbau an den Kindern und Jugendlichen, und volkswirtschaftlich ein Desaster.“

Mehrere Red­ne­r*in­nen weisen darauf hin, dass die Schulstationen bedroht sind – möglicherweise berlinweit. In diesen Stationen, die an Schulen angedockt sind, arbeiten Sozialarbeiter*innen. Sie unterstützen Schüler*innen, Leh­re­r*in­nen und Eltern bei Fragen, Konflikten und Problemen rund um die Schule, und zwar im Rahmen der Jugendhilfe

Mitte hat bereits angekündigt, seine letzten 5 Stationen zu schließen. Andere Bezirke zögen nach – oder müssten das angesichts des Spardrucks, befürchten mehrere Anwesende. Eine Kürzung, die der Senat nicht auf seine Kappe nehmen müsste – die er aber letztlich ausgelöst habe, heißt es. Schon jetzt ist absehbar, dass der Senat den Spardruck auch für kommende Jahre aufrechterhält.

Belastete Bezirke

Wie sehr die Kürzungen die Bezirke belasten, schildert Neuköllns Jugendstadträtin Sarah Nagel (Linke). „Bei uns fehlen 20 Millionen pro Jahr“, sagt sie. Auch das werde viele Kinder treffen, die in Armut aufwachsen. Der Bezirk hat bereits Eckwerte für den Doppelhaushalt 2026/27 aufgestellt – und in einer Mitteilung „schmerzhafte Einschnitte“ angekündigt. „Schulen sind die Orte, wo Chancengerechtigkeit umgesetzt werden kann“, schreibt Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) darin.

Neukölln habe hier eigene Schwerpunkte gesetzt – doch die seien in Zukunft nicht mehr möglich. Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, Spiel- und Sportangebote oder die Pflege von Grünanlagen drohen wegzufallen. „Die Finanzierung der Bezirke muss dringend auf neue Füße gestellt werden“, fordert Hikel daher.

„Was passiert wo, und was verschlechtert sich? Wir kommen kaum hinterher“, sagt Klaudia Kachelrieß von der Gewerkschaft für Erziehung und Bildung (GEW). Zu den Kürzungen kämen noch die Änderungen im Schulgesetz. „Wir hatten lange den Ansatz einer ganzheitlichen Bildung. Den fährt der Senat gerade massiv zurück“, so Kachelrieß. „Es bleibt nur noch Deutsch, Englisch, Mathe. Das ist ein bildungspolitischer Rollback“, kritisiert sie.

Kachelrieß wie auch die Gastgeberin und bildungspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Franziska Brychcy, rufen zu Protesten auf. Noch vor den Sommerferien wollen sie ihre Kritik vor das Abgeordnetenhaus tragen. „Es geht jetzt um den Kern“, sagt Brychcy.

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