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Notizen aus dem KriegNur die Vorhänge tanzen im Wind

Tag für Tag versucht unser Autor, Menschen zum Verlassen ihrer Häuser zu bewegen. Die Kälte sitzt ihm im Nacken, oft kommt er zu spät.

In zerstörten Häusern sucht unser Autor nach Überlebenden Foto: Georgy Zeykov

Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei der Evakuierung in und um Charkiw, seiner Heimatstadt. Zeykov war vor dem Krieg Unternehmer, designte Mode und Accessoires.

Bei unserer Ankunft in den Wohnräumen, unseren Einsatzorten, wirkt es für uns manchmal so, als sei dort zuvor ein riesiges Kind herumgetobt. Als habe es alles darin Befindliche, jede Deko, jedes Möbelstück, in seine mächtigen Pranken genommen, hochgehoben und auf den Boden geschmettert. Unmöglich, in so einer Zerstörung irgendetwas wiederzufinden.

Langsam betrete ich das Schlafzimmer. Der makelloseste Gegenstand in dieser Umgebung ist mein Erste-Hilfe-Kasten, den ich mitgebracht und auf den Nachttisch neben dem Bett gestellt habe. Das sauberste, unversehrteste Objekt und gleichzeitig das unbrauchbarste. Die Frau, für die ich Einkäufe mitgebracht habe, ist nirgends zu finden. Auf ihrem Bett liegen die blutverschmierten Glasscherben des Fensters gegenüber. Eine Granate hat es zerschmettert. Der zerrissene Vorhang tanzt im Wind wie eine Banshee aus gruseligen irischen Märchen. Ich hebe die Kiste mit den Einkäufen hoch und gehe zurück durch die gesprengte Tür Richtung Straße.

Auf dem Hof kommt mir ein Husky entgegen. Er mustert mich mit neugierigem Ausdruck. Die Kiste in meinen Armen wiegt schwer. Sie ist inzwischen zu einer Art Maskottchen für mich geworden, das ich mit mir herumtrage, ohne es jemals loszuwerden. Ich habe eine Liste mit Namen und Adressen potenziell evakuierbarer Menschen. Wir versuchen, sie zum Gehen zu bewegen oder ihnen Hilfe anzubieten, wenn sie bleiben wollen. Heute war ich bereits in zwei Häusern, in denen Menschen hätten sein sollen. Doch die Häuser waren zerstört, die Räume verlassen.

Wir arbeiten gegen die Zeit. Die Kälte sitzt uns im Nacken

Ich stelle die Kiste mit den Einkäufen ab und rufe den Hund vorsichtig zu mir. Er starrt mich weiter an und bewegt sich nicht. Plötzlich zuckt der Husky zusammen und rennt Richtung Tor, hinaus aus meinem Blickfeld. Ich greife wieder die Kiste und folge ihm. Am Tor schaue ich mich um, aber der Husky bleibt verschwunden. Explosionen erschrecken die Tiere. Ich hätte den Hund gerne gerettet, aber ich habe keine Zeit, ihn einzufangen. Im Oktober wird es schnell dunkel.

Unser Geländewagen parkt unter einem Apfelbaum. Baumkronen schützen gut vor russischen Armeedrohnen. Für Freiwillige an der Front gibt es zwei verbindliche Regeln. Die erste lautet: Verstecke dein Fahrzeug unter dichtem Geäst, die zweite: Schau, bevor du aussteigst, auf den Boden unter deinen Füßen. Einmal ist ein Freiwilliger auf eine Mine getreten. Es hat ihn nicht umgebracht, aber er lebt nun mit einer Behinderung. Ich stelle die Kiste auf den Rücksitz und setze mich neben den Fahrer ins Auto. Er wirft mir einen fragenden Blick zu, ich schüttle den Kopf. Wieder kein Erfolg.

Heute sind wir in dem Dorf Torske. Anfang Oktober haben es die ukrainischen Truppen zurückerobert. Während die Russen das Dorf verließen, haben sie es vermint. Seither müssen alle ununterbrochen auf ihre Schritte achten. Die Minen besorgen mich. Sobald der Winter einsetzt und der erste unschuldige Schnee fällt, werden wir sie nicht mehr sehen können. Das wäre das Ende unserer Arbeit – es würde einfach viel zu gefährlich. Ich befürchte, dass mit dem Winter die Krankheiten zunehmen werden. Halten sich die Menschen dann in den verminten Gefahrengebieten auf, werden wir ihnen weder Medikamente noch Brennholz gegen die Kälte bringen können. Wir arbeiten gegen die Zeit. Das kalte Wetter sitzt uns im Nacken.

Täglich treten wir mit Menschen in Kontakt, die sich weigern, evakuiert zu werden. Wir versorgen sie mit dem Notwendigen und versuchen sie immer wieder zu überzeugen, doch mitzukommen. Das braucht Zeit, aber ist besser, als die Menschen im Winter in einem Kriegsgebiet zurückzulassen. Ich kann sie nicht einfach so aufgeben.

Unser Auto fährt an einem Haus mit einer großen Kirschplantage vorbei. Einige der Bäume sind bereits gefällt worden, sie dienen nun als Brennholz für den Winter. Wenn ich abgeholzte Bäume sehe, fühle ich mich unwohl. Die Gärten und Wälder der Ukraine sind weitere Opfer dieses Krieges.

Um die Heizperiode zu überstehen, schließen sich häufig fünf oder sechs Familien zu kleinen Gemeinschaften zusammen. Womöglich verlassen sie die Region dann gemeinsam. Aber oft scheitern alle Absprachen, weil eine Person sich dann doch weigert. Alle oder niemand. Wenn eine Person nicht gehen will, könnten alle sterben. Manchmal passiert genau das mit Menschen, die ich zuvor vergeblich zu überzeugen versucht habe.

Das Adressbuch meines Handys ist voll mit Kontaktdaten Gestorbener: Die Nummer einer älteren Dame, die nicht evakuiert werden wollte. Der Polizist aus Liman, der bei einer Evakuierung ums Leben kam. Ein Kollege meldet sich nicht mehr; auch die Nummer eines anderen erinnert mich daran, dass er irgendwann einfach verschwand. Mir geht es nicht gut, wenn ich durch diese Kontakte scrolle. Aber ich lösche sie nicht. Die Kontakte bleiben eine Art Gedenkstätte im Telefonbuch.

Unsere Route führt uns an den Rand des Dorfes. Momentan einer der gefährlichsten Orte im Umkreis. Theoretisch könnten die Kämpfe dort jeden Moment beginnen. Aber heute ist es bewölkt und regnerisch, die Drohnen fliegen bei diesem Wetter selten. Ein Schulbus kommt uns entgegen. Als er an uns vorbeifährt, sehen wir die Leiche eines russischen Soldaten aus der halb geöffneten Tür des Beifahrersitzes hängen. Ein ukrainischer Panzer gleich dahinter. Wir werden langsamer, fahren an den Straßenrand und halten schließlich an. Der Bus ist längst fort.

taz am wochenende

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Ein Militäroffizier steigt aus dem Panzer aus. Wer wir sind, was wir hier suchen, fragt er. Als wir ihm antworten, schüttelt er den Kopf und fordert uns auf, den Motor abzustellen. Mit der Faust schlägt er auf sein eigenes Fahrzeug, der Motor verstummt. Er hebt den Finger, fordert uns zum Innehalten auf. Wir hören Schüsse. Am äußersten Rand des Dorfes, unserem Zielort, wird gekämpft. Ein weiteres Mal schlägt der Soldat auf das Metall. Das Fahrzeug springt wieder an und übertönt dabei die Schüsse. Während der Soldat wieder einsteigt, zeigt er auf das gegenüberliegende Ende des Dorfes. Dort gebe es ganz bestimmt Leute zum Evakuieren.

Der Panzer fährt davon, schlagartig wird es still. Aber nicht lange: Wo zuvor schon Schüsse fielen, fallen weitere. Nun von beiden Seiten.

Aus dem Englischen von Frederike Grund

Seit Beginn des Kriegs ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist auf Spenden angewiesen.

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