Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen
Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt?
Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile Soziologie. Fedorenko kommt aus Kyjiw. Inzwischen lebt sie in Lwiw, arbeitet als Mathe-Nachhilfelehrerin und bestückt im Rahmen eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus dem Krieg.
Meine Mitbewohnerinnen
Ich weiß, dass wir als 15-Jährige nie Freunde geworden wären. Ich war damals eine von diesen Nerds und ich war verliebt in dystopische Romane. Olya dagegen ging zu der Zeit schon als Freiwillige und Fotografin zu Konzerten von Musikgruppen. Und Ira fing an, alle Jungs um sie herum dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben.
Aber jetzt kann ich mir ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen.
Wenn ich in der Onlineklasse sitze und Olya mich zur Begrüßung umarmt, weil sie zwei, drei Stunden nach mir aufsteht. Wenn ich etwas lese und Ira kommt und sich einfach neben mich legt und anfängt, über eine Menge Dinge gleichzeitig zu reden, obwohl ich weiß, dass es nur ein Versuch ist, dem zu entkommen, was sie am meisten beschäftigt: die Angst, dass ihr Vater nicht lebend zurückkehren wird.
Am Abend zuvor haben wir uns eine Sendung auf Netflix angeschaut. Es war ein langer Tag. Ira weinte auf Olyas Schoß.
Ich habe Angst, dass sie an ihrer Angst um den Vater zerbricht.
Dass diese Angst sie lähmt.
Dass diese Angst ihr jenes Leben nehmen wird, in dem sie beim Frühstück singt, in dem sie Adele auf dem Klavier spielt, in dem sie mir mit brennenden Augen von ihrer Nichte und ihrem Diplomthema erzählt.
Ich habe große Angst um sie.
Ich wünschte, wir hätten schon gewonnen und ihr Vater wäre da. Und sie hätten zu Hause über etwas Interessantes gesprochen. Und Ira würde ihn durch diese Wohnung führen, in der wir zu dritt leben.
Ich fühle mich so privilegiert, einen Vater zu haben. Dass er in der Nähe meiner Familie ist. Dass ich mir keine Sorgen um sein Leben machen muss. Dass er dort sein kann, neben meiner Mutter, neben Sonja und Jaroslaw.
Unter all diesen Menschen, deren Väter für unsere Freiheit kämpfen oder die bereits dafür gestorben sind, fühle ich mich in sehr guter Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die weiß, dass Freiheit einen Preis hat. Und dass wir ihn jetzt alle bezahlen, nur um am Samstagmorgen Kaffee trinken gehen zu können oder das Gewitter vor dem Fenster zu betrachten, ohne zu befürchten, dass der Donner eine Explosion ist.
Kriegsereignisse
In der Ukraine fühlt es sich gerade so an, als wäre man während eines Tsunamis am Strand.
Ich schnappe nach Luft.
Aber sieben Monate sind schon vergangen. Und ich kenne inzwischen ein paar Tricks, wie ich besser an die Oberfläche komme, um nicht unter der nächsten Welle zu sterben.
Trotzdem: Ich kann sagen, dass ich durch Luftalarme ängstlicher geworden bin. Irgendwann dachte ich, ich wäre daran gewöhnt. Aber jetzt fange ich bei jedem Geräusch, das sich wie das Einsetzen einer Sirene anhört, an zu zittern.
Der Sirenendienst der Ukraine hat diesen Monat Alarmkontrollen auf Telefonen durchgeführt, damit wir alle wissen, was zu tun ist, wenn es zu einer nuklearen Explosion kommt. Beim ersten Mal, als diese Atomwarnung auf mein Handy kam – ein mega durchdringender Ton, der mit nichts zu verwechseln ist – dachte ich, ich bekomme einen Herzinfarkt.
Während der letzten anderthalb Monate ist die Welt am dritten Weltkrieg vorbeigeschrammt. Und an einer Atomkatastrophe. Mehrfach schon haben die Russen das Gelände des AKW Saporischschja beschossen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wir haben in der Oblast Charkiw eine glänzende Gegenoffensive geführt. Es waren ein paar gute Tage, als in den Nachrichten nur Videos von unseren Soldaten zu sehen waren, die die ukrainische Flagge an Verwaltungsgebäude der befreiten Städte aufhingen.
Dann gab es ein paar schreckliche Tage, an denen der gesamte Newsfeed mit dem Foto eines Handknochens mit einem gelb-blauen Armband bedeckt war – das Militär fand Massengräber von Ukrainern in den befreiten Gebieten.
Ich hatte fast jeden Tag Wutanfälle.
Was kürzlich geschah
Ein Teil der Kämpfer des Asowschen Regiments wurde aus russischer Gefangenschaft entlassen. Vor Kurzem wurde ein Foto in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, das den Fotografen Orest zeigt. Die Russen haben ihn in Gefangenschaft fast ausgehungert. (Andere wurden im Gefangenenlager Olenivka gleich getötet.)
Aber seine Augen. Habt ihr die Augen von Orest gesehen? Dies sind die Augen eines Mannes, der durch die Hölle gegangen ist, und der weiß, dass eine bessere Zukunft vor ihm liegt. Er sah einen Sinn in seinem Leiden. Ich frage mich, ob Orest die Gedanken des Holocaustüberlebenden Viktor Frankl bestätigen würde, dass es an jedem Einzelnen liege, ob er seine Würde verliere, und dass Aussöhnung einen sinnvollen Ausweg aus den Katastrophen eine Krieges weise.
Wichtige Ereignisse in meinem Leben
Ich war von Ende August bis fast Mitte September drei Wochen in Kyjiw.
Ich habe es geschafft, mein Hauptfach auf Soziologie zu ändern.
Ich habe mich bei der NGO WithUkraine registriert.
Mein jüngerer Bruder geht in die erste Klasse.
Meine jüngere Schwester hat ein Medizinstudium aufgenommen
Anfang Oktober hatte ich meine ersten Vorlesungen in Soziologie, und ich bin verliebt in diese Wissenschaft.
Das BookForum
In Lwiw findet jedes Jahr, ich weiß nicht seit wann, das „Lviv BookForum“ statt. Normalerweise versammeln sich dort Leute aus der Verlagsbranche, sprechen über neue Bücher, Formate und Errungenschaften. Dieses Jahr ging es beim BookForum überhaupt nicht ums Geschäft. Vielmehr haben die Organisator*innen Leute eingeladen, die sich mit den Themen Völkerrecht, Propaganda, Geschichte, Aktivismus auskennen. Und Regierungsmitglieder, die sich für die Bekämpfung russischer Desinformation einsetzen.
Als ich mit einem Freund, einem Kollegen von WithUkraine, dort saß, wurde mir klar: Es gibt eine Kluft zwischen der Ukraine und dem Rest der Welt. Wir von WithUkraine versuchen, sie zu schließen, indem wir das Ausland über die Geschichte der Ukraine aufklären, über die langen und schrecklichen Beziehungen zu Russland, über all die Völkermorde, die hier von Russland begangen wurden. Doch aus irgendeinem Grund werden wir, emotionale Ukrainer*innen, die diese historischen Verbrechen herausschreien, nicht gehört. Der Vorwurf: Wir seien nicht objektiv.
Und dann wird der Friedensnobelpreis an die ukrainische Menschenrechtsorganisation CCL, an Russen und an einen Belarussen verliehen, und ich möchte sagen: „Guten Tag!“ Das fühlt sich doch wie eine falsche Message des Nobelpreis-Komitees an – dass nämlich ukrainische, russische und belarussische Menschen doch immer noch eine Gruppe sind. Und dies, obwohl die Ukraine jeden Tag von Leuten der anderen Länder bombardiert wird. Ukrainer*innen sterben jeden Tag durch sie und zwar deshalb, weil sie entschieden haben, dass sie in diesem Land leben wollen.
Und jetzt die Frage: Kann eine Person, in deren Haus Bewaffnete eindringen, die die Bewohner*innen vergewaltigen, ausrauben, töten, unter dem Vorwand Neonazis auszurotten, das hinnehmen? Aber die, die das von außen beobachten, sagen: „Nun, das ist ihre gemeinsame Wohnung. Sie sind Brüder und Schwestern, Verwandte. Und im Allgemeinen eine Nation!“
Ich bin sehr böse. Es tut mir leid.
Tja, und dann drängt sich noch Elon Musk mit rein und sagt, dass die Krim zu Russland gehört.
Mein Freund und ich redeten darüber, dann setzten wir uns hin und fingen an zu weinen
Aus dem Englischen von Waltraud Schwab
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren