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Notizen aus dem Krieg„Ich schreibe sehr viele Gedichte“

Nach fünf Wochen Krieg hat Alma L. zwei Freunde verloren. Trotz ihrer Erschöpfung engagiert sie sich auch weiter für die humanitäre Hilfe in Lwiw.

Die Veranstaltung „Licht der Erinnerung“ in Lwiv erinnert an von Russen getötete Ukrainer Foto: Pavlo Palamarchuk/reuters

Alma L. ist 21 Jahre alt und kommt aus Tscherniwzy, einer Stadt nahe der Grenze zu Rumänien. Vor dem Krieg studierte sie in Lwiw an einer katholischen Universität. Alma hat sich entschieden, in Lwiw zu bleiben und berichtete bereits vor einem Monat von ihren Eindrücken vom Krieg. Seit Beginn des Krieges setzt sie sich als Helferin in allen möglichen Bereichen ein. Seit ein paar Wochen arbeitet sie für die katholische Organisation „Seminar des Heiligen Geistes“ in Lwiw, die zu ihrer Universität gehört.

Freitag, 1. April

Gestern ist jemand gestorben, den ich aus der Ukrainian Leadership Academy kannte. Er war immer freundlich zu mir, einfach so. Bis Mitternacht habe ich durchgehalten, dann habe ich geweint und in meine Decke geschrien. Die Besten unserer Leute sterben. Ich weine, während ich das hier schreibe. Ich dachte, ich hätte keine Angst vor dem Tod, aber wie die meisten Menschen habe ich ihn einfach ignoriert. Es ist so ungerecht. Meine Freunde sterben, weil diese Kreaturen auf humanitäre Konvois schießen und Frauen und Kinder vergewaltigen. Ich bin immer noch stolz auf meine Freunde, aber in mir ist mehr Schmerz als Stolz. Wir müssen den Preis für kranke imperialistische Träume bezahlen. Und die Welt sieht zu.

Auf einer Wikipedia-Seite über die Ukraine-Flüchtlinge steht, Russland habe 350.000 Flüchtlinge aufgenommen. Sie reden von Flüchtlingen! Dabei wurden sie zwangsevakuiert.

Die Menschen sind weder gut noch böse. Nichts von dem, was passiert, wird von irgendwelchen abstrakten geopolitischen Gesetzen bestimmt. Geschichte wird von Menschen gemacht, die sich für das Gute oder das Böse entscheiden, und in diesem Fall haben sich die Russen für das Böse entschieden, und die Ukrainer hatten keine andere Wahl, als sich zu wehren, um ihre Leben zu verteidigen. Die Menschen schenken der russischen Erzählung über die Ukraine Glauben. Ich weiß nicht, wie ich die Welt dazu bringen kann uns zu hören, aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Aufzugeben käme einer Zustimmung zu diesem Völkermord gleich.

Evakuierung nach Italien

Samstag, 2. April

Heute empfangen wir eine Delegation aus Italien. Ich habe mich etwa eine Woche lang auf diesen Besuch vorbereitet. 150 Italiener sind nach Lwiw gekommen und haben Hilfsgüter gebracht. Morgen nehmen sie 163 Ukrainer mit zurück nach Italien. Ich habe sehr viel mit ihnen telefoniert, denn es ist nicht so einfach, sie davon zu überzeugen, die Ukraine zu verlassen, auch wenn sie ständig unter der Gefahr von Luftangriffen stehen. Aber in Italien werden sie besser dran sein. Viele haben mich gefragt, wann sie wieder in die Ukraine zurückkönnen. Sie verstehen nicht, dass dieser Krieg noch einige Zeit dauern wird. Der Erste Weltkrieg war nicht vor Weihnachten zu Ende, dieser wird nicht vor Ostern zu Ende sein.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es war seltsam, mit den 150 Italienern in einem Raum zu sein. Der Unterschied zwischen den Menschen, die nicht jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen, und denen, die es tun, ist offensichtlich. Viele von ihnen sehen aus, als wären sie im Abenteuerurlaub, mit ihren Schals und Friedenszeichen.

Als ich dort war, erfuhr ich vom Tod von Maks Levin. Er war ein Kriegsfotograf, der 2016 in Ilowajsk Aufnahmen machte. Vergangenes Jahr um diese Zeit schaute er nach Eichhörnchen im Park und gab mir seine Jacke, obwohl ich versuchte, ihn zu überzeugen, dass mir nicht kalt sei. Er hat den Krieg fotografiert und ist vor fast drei Wochen verschwunden. Jetzt ist er tot. Noch ein Freund, der gestorben ist.

Ich musste diesen Besuchern höflich erklären, wohin sie gehen und was sie tun sollten. Ich dachte schon immer, ich hätte ein unechtes Lächeln, aber so falsch wie heute war es noch nie. Ich teile meinen Schmerz nicht mehr. Jeder Ukrainer hat jemanden verloren. Ich hatte mit den Menschen in Syrien Mitgefühl, aber ich habe es nicht verstanden, weil mein Land zu diesem Zeitpunkt noch keine russischen Bombardierungen erlebt hat.

Sonntag, 3. April

Ich wachte nach drei Stunden Schlaf wegen eines Fliegeralarms auf. Ich konnte wegen des Alarms auch nicht gleich losfahren, um bei der Evakuierung der Menschen, die wir heute aus der Ukraine nach Italien evakuieren, zu helfen. Es schneite die ganze Nacht.

Menschen aus Dnipro, Krywyj Rih, Mariupol, Melitopol und anderen Städten in der Ost- und Südukraine trafen bei uns ein, um sich evakuieren zu lassen. Viele wollten nicht in kleine Städte in Italien gehen, weil sie Angst hatten, dort keine Arbeit zu finden. Ich hoffe, dass diese Menschen die Ukraine im Ausland gut vertreten werden. Es ist wichtig, dass wir uns Gedanken machen, wie wir uns im Ausland repräsentieren. Wir können es uns nicht leisten, die internationale Unterstützung zu verlieren.

Eine Frau entschied in letzter Minute, dass sie nicht abreisen wollte. Wir brachten sie zum Bahnhof und kauften eine Fahrkarte für die Rückreise. Manchmal ist der psychologische Tribut, das Land zu verlassen, größer als die ständige Bedrohung, an die wir uns gewöhnt haben. Am Bahnhof gibt es mehrere Zelte für die ankommenden Menschen. Freiwillige fahren in ihren Autos umher und bieten Fahrten zu den Unterkünften an. Die Westukraine hat 6,5 Millionen Vertriebene aufgenommen. Wir müssen Arbeit und Unterkunft für diese Menschen finden.

Nach 10 Stunden Arbeit war ich erschöpft.

Totale Verausgabung

Montag, 4. April

Der heutige Tag war ein Albtraum. Ich habe mich total verausgabt. Zusätzlich zu Halsschmerzen und Fieber musste ich mich übergeben und konnte bis etwa 17 Uhr nicht begreifen, was los war. Ich musste zwei Stunden lang schlafen, bevor ich mir eine Tasse Tee machen konnte.

Vor einigen Tagen trafen sich Alumni der Ukrainian Leadership Academy mit dem ehemaligen israelischen Bildungsminister. Er und seine Kinder sind hier in Lwiw und helfen, wo sie nur können. Er sagte etwas sehr Wichtiges: dass es unser Unabhängigkeitskrieg ist. Ähnlich wie sich das israelische Volk im Unabhängigkeitskrieg nur auf sich verlassen konnte, sind wir nun auch auf uns gestellt. Internationale Hilfe ist sehr wichtig, aber wir müssen die Initiative ergreifen, selbst herausfinden, was zu tun ist und Unterstützung für unseren Plan gewinnen. Seit mindestens 100 Jahren sehen wir Ukrainer Europa als unsere Heimat an, als einen Ort, an dem wir aufgrund unserer gemeinsamen Werte verstanden werden. Aber es zeigt sich, dass wir uns immer noch erklären müssen, und manchmal müssen wir sogar Europa sich selbst erklären.

Vor einigen Tagen hörte ich eine Aufnahme einer russischen Lehrerin, die mit der russischen Außenpolitik nicht einverstanden war. Sie sagte nur, dass die Ukraine eine souveräne Nation sei und Russland die Sanktionen verdiene. Ich frage mich, wo diese Lehrerin jetzt ist. Sie ist die wahre Dissidentin, nicht die Stuntfrau Marina Owsjannikowa, die in Italien in Talkshows eingeladen wird. Ich wünschte, die Leute würden Peter Pomerantsevs Buch „Nichts ist wahr und alles ist möglich“ lesen. In Russland gibt es keine Freunde, vor allem nicht in den russischen Medien.

Ich bin sehr müde. Ich befürchte, ich habe eine Hirnhautentzündung. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so fühle. Die ukrainischen Soldaten können tagelang nicht schlafen, und sie halten trotzdem durch. Aber jeder sollte jetzt seine eigenen Fähigkeiten akzeptieren und tun, was er kann. Es gibt einen ukrainischen Gruß, den die Menschen auf der ganzen Welt verwenden (und diese Solidarität rührt mich zutiefst): „Slawa Ukraini“ (Ruhm der Ukraine). Die Antwort auf diesen Gruß ist „Ruhm den Helden“. Es ist am besten, wenn die Helden leben und gesund sind.

Psychische Gesundheit in Kriegszeiten

Dienstag, 5. April

Heute geht es mir besser.

Die Leute, die wir evakuiert haben, sind jetzt in Italien. Sie schicken Bilder aus Pisa und Rom. Ich bin froh, dass sie in Sicherheit sind.

Die einzige russische Bekannte, die ich habe, hat mir eine Nachricht geschickt, in der sie mir gegenüber ihr Bedauern ausdrückt. Sie entschuldigt sich dafür, dass sie sich nicht früher gemeldet hat, und erklärt, dass sie das Gefühl habe, in dieser Situation nichts zu sagen zu haben. Jeder Russe und jede Russin ist für diese Situation verantwortlich, aber ich empfinde keinen Hass ihr gegenüber.

Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, über psychische Gesundheit in Kriegszeiten zu recherchieren. In der akademischen Literatur gibt es nur wenige praktische Leitfäden, weil diese Artikel von Menschen geschrieben werden, die den Konflikt nicht erlebt haben. Unsere Organisation plant ein Projekt zur Förderung der psychischen Gesundheit.

Mittwoch, 6. April

In letzter Zeit schreibe ich sehr viele Gedichte – ein, zwei, drei Gedichte pro Tag. Ich habe das Gefühl, dass mich der Schmerz jetzt zum Nachdenken und Reflektieren anregt.

Jeden Tag höre ich die Luftangriffssirenen und lese später, wo die Raketen abgeschossen wurden. Jede dieser Raketen hätte mein Haus treffen können. Ich habe mich an diesen Gedanken gewöhnt. Es ist ein dumpfer Schmerz, der sich irgendwo in mir festgesetzt hat. Aber ich bin überrascht, dass ich, abgesehen von den Weinkrämpfen, arbeiten und denken kann.

Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer

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1 Kommentar

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  • Danke für die Einblicke! Ich fände es toll, wenn eine weitere Ebene mehr thematisiert werden würde. Die Menschen leben ja nicht unter den gleichen sozialen Bedingungen oder haben die gleichen sozialen Chancen. Die Lebensrealität und Möglichkeiten eines ukrainischen Postboten oder eines Bauers sind andere als die des Superreichen Rinat Achmetow. Und so sind sicherlich Fluchtmöglichkeiten (auch die, sich dem Waffeneinsatz zu entziehen), die Möglichkeiten woanders Fuß zu fassen, unterschiedlich. Allgemeine Ungleichheit trifft die Menschen in der Ukraine, aber auch die in Russland, in Italien usw.. Insofern gäbe es theoretisch die Möglichkeit, sich unter Benachteiligten zu solidarisieren.