Notizen aus dem Krieg: „Man will nicht wach werden“

Seit vier Wochen Krieg in der Ukraine. Ljuba Danylenko aus Kiew lebt jetzt im Westen des Landes und schrieb auf, was sie auf der Flucht erlebt hat.

Zwei Frauen mit einem Kind in der Mitte, das sie hochfliegen lassen

Ljuba, Ostap und Natascha in Uschgorod Foto: privat

Ljuba Danylenko floh zwei Tage vor Kriegsausbruch mit ihrer Freundin Tanja Pastuschenko und ihrem fünfjährigen Sohn Ostap in die rumänischen Karpaten. Von dort schrieb die 46-jährige Historikerin und Dolmetscherin für die taz auf, wie das Leben von einem Tag auf den anderen nicht mehr ist, was es war. Von den Karpaten aus flüchteten sie nach einer Woche weiter in die ukraini­sche Stadt Uschgorod an der slowakischen Grenze. Hier weitere Einträge von ihr aus den vergangenen drei Wochen, denn der Krieg hört nicht auf.

Chaotische Notizen und unheimlich lange Tage. Zeit vergeht mit Schreiben, mit Telefonieren. Wir wohnen bei Natascha in Uschgorod. In der Kleinstadt hängen überall Plakate, die zum Sieg aufmuntern. Am Sonntag wieder Kirchenbesuch. Ist es schon eine Woche her, dass wir in der Kirche in den Karpaten waren? Hier in Uschgorod ist es eine große, schöne, übervolle Kathedrale, Menschen stehen draußen.

Ist, was geschieht, wahr? Es ist wie ein Albtraum. Wir trösten uns, indem wir uns vorstellen, wie wir den Sieg feiern. Wie wir uns umarmen und jubeln. Alle Frauen wollten zum 8. März, dem Frauentag, nur das eine Geschenk. Nicht das Kriegsende – nein, sie wollen den Sieg. Viktoria, eine Freundin, schickt mir am 8. März ein Foto. Sie ist in Militäruniform und mit Blumen. Frauen kämpfen mit.

Die 91-jährige Holocaustüberlebende Nadeschda ist mit ihrer Familie in Polen. Erleichterung. Jetzt brauchen andere unsere Hilfe. Wir suchen im ganzen Lande nach NS-Opfern, die gewiss in Not sind. Es erfüllt unser relativ ruhiges Leben mit Sinn. Wir haben schon einige Spenden bekommen.

Die russische „Entnazifizierung“ Kiews zwingt die 96-jährige Anastasia Gulaj, eine weitere Holocaustüberlebende, ihr selbst erbautes Haus zu verlassen. Beim zweiten Versuch schafft sie es mit Sohn und Tochter nach Lwiw. Dann stundenlanges Warten an der polnischen Grenze, dann Weiterfahrt, bis unser Freund aus Magdeburg sie in die Arme schließt. Ob sie sich gedacht hat, noch einmal Deutschland zu besuchen? Die letzten Veranstaltungen waren ja online wegen Corona und ihrer kranken Beine.

Eine Erinnerung

Eine Erinnerung aus dem Jahre 2018: Anastasia und ich kommen zum Zeitzeugengespräch auf ein Übungsgelände der Nato in Sachsen-Anhalt. Etwa 200 Soldaten grüßen stehend. Nach einem bewegenden Bericht über zwei qualvolle Jahre Auschwitz und Bergen-Belsen fragt einer der Soldaten: „Wie können Sie, die Sie so viele NS-Gräueltaten erlebten, in Kiew wohnen, wo der Faschismus blüht?“ Erst erschrocken, fasst sich Anastasia doch wieder und sagt: „Ich lebe im friedlichen Kiew, und nirgendwo habe ich Faschisten gesehen. Spinnt der Kreml sein Lügennetz bis nach Deutschland? Die nationalistischen Kräfte bekommen in der Ukraine 1,6 Prozent der Wahlstimmen. Und bei euch?“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo.

Am 9. März war der Geburtstag unseres Nationaldichters Taras Schewtschenko. Er lebt mit uns weiter, er ist da, seine Worte sind Zeitgeist. „Liebt unsere Ukraine! Liebt sie auch in der bösen Zeit. In der letzten schweren Minute betet der Herr für sie.“

Sehnsucht. Ich blättere meine Freundesliste auf Facebook durch – Leute, ich habe euch so lieb! Zwei Kontakte ohne Bild allerdings werden endgültig gelöscht. Der Gedanke an zwei weitere tut mir weh. Martin Luther King Jr. sagte: „Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.“

Auf dem Smartphone schauen sich mein fünfjähriger Ostap und ich Fotos und Videos aus der Vorkriegszeit an. Das herrliche Kiewer Puppen­thea­ter, erbaut wie ein märchenhaftes Schloss mitten im Stadtzentrum. Bilder an der Wand meiner Wohnung, die meine Mama gestickt hat; die sind mir mehr wert als alles andere. Meine Blumen tun mir auf einmal leid, sie werden nicht überleben.

Die Rettung von Tieren liegt erstaunlich vielen am Herzen. Sie werden mit evakuiert, gerettet, operiert. Sechs Katzen im Haus sind mein Antistress. Ein Bekannter fragt, wie man eine Fledermaus füttern soll, die zu früh aus dem Schlaf erwacht ist. Sogar Hühner werden Opfer der russischen Eindringlinge: Drei Millionen Hühner verhungern auf der Geflügelfarm Chornobayiw bei Cherson, weil kein Futter geliefert werden kann. Sie können nicht entsorgt werden.

Eine anekdotische Geschichte versetzt uns in bessere Stimmung: Eine Frau sieht, als sie ihre Heimat in der Region Sumy verlässt, einen frei laufenden Husky. Der streunende Hund tut ihr leid, er kommt ihr verlassen vor. Sie läuft ihm hinterher, schafft es, ihn zu fangen, und packt ihn in den Kofferraum ihres Wagens. Als ein extra geholter Tierarzt die Heckklappe aufmacht, sieht er voller Staunen einen Wolf. So viel zum Mut ukrainischer Frauen.

Zwischendurch Frisiersalon. Freun­de in Uschgorod versuchen uns Normalität zu vermitteln und machen einen Termin beim befreundeten Friseur Jan. Er ist aus seinem Haus ausgezogen, um dort 13 Flüchtlinge unterzubringen. Eine ältere Dame kommt zum Haareschneiden und redet mit mir: „Es ist schon der zweite Krieg, den ich erleben muss. Beim ersten war ich zu klein, um zu kämpfen, und bei diesem bin ich zu alt.“ Alewtina ist ihr Name, ethnische Belarussin. Ihre Tochter ist in Lwiw geboren und fühlt sich als „echte Ukrainerin“. Ukrainisch zu sein ist eine Weltanschauung, keine nationale Herkunftsfrage, hat mein Mann oft gesagt.

Meine Schwester aus Kiew ruft plötzlich an, ich bekomme mit, dass sie und ihr behinderter Sohn in einem Taxi sind: „Wir fahren zum Bahnhof. Wir wissen nicht, welchen Zug wir nehmen, egal, bloß weg aus dieser Hölle.“

Sie ergattern Platz in einem Sonderzug. Dort sitzen sie mehrere Stunden im kalten Durchgang auf ihren Taschen. Kein Licht brennt wegen der Gefahr, zur Zielscheibe zu werden. Nur die Stimme des Lokführers, dass man Umwege machen müsse. Um 3 Uhr nachts kommen sie in Lwiw an, dürfen aber wegen der Sperrstunde nicht weiter. Noch drei Stunden am Bahnhof frieren. Dann in die Wohnung einer Freundin von mir.

Ich wache um halb acht auf. Ich fühle mich ausgeschlafen. Und beschämt. Ein sauberes Bett, und sei es bloß eine Couch, ist nun Luxus für viele. Schlaf wirkt jetzt rettend. Man will nicht wach werden.

Der Krieg bringt uns viele neue Erkenntnisse übers eigene Land: von den riesigen Lagerräumen bei Kiew, die nun explodierten, bis zu den größten Eier-Inkubatoren und Produktionsstätten westlicher Firmen. Ochtyrka erweist sich als wichtiger Ort, ich war da noch nie. Charkiw mit unerwartet viel Widerstand. Dort sind Museen und die Oper beschädigt, Kunstwerke vernichtet. In der Charkiwer Kunstgalerie versucht man Gemälde russischer Künstler vor den Russen zu schützen.

bild in den Farben geld und blau auf Veranstaltungsplakaten

„Die friedliche Stadt ist meine Galerie – meine Bilder sind ein Geschenk an Uschgorod“ Foto: privat

Meine Kiewer Nachbarn, eine mehrköpfige Romafamilie, melden sich aus Moldau. Sie konnten fliehen. Sie lieben die Ukraine; sie weinen. Sie laden mich nach Chisinau ein. So viel Wärme.

Details lässt er weg

Seltene Videoanrufe meines Mannes – wenige Worte, wir wollen einander nur sehen, alles ist auch so klar, jeden Zug seines Gesichts will ich mir merken. Am 13. März, seinem Geburtstag, meldet er sich erst abends. Er schreibt kurz: „Heute hatte ich zweimal Geburtstag.“ Details lässt er aus.

Irpin. Worsel. Butscha – nun sind diese vor Kurzem so begehrten Vororte von Kiew weltbekannt. Sie zahlen ungeheure Opfer, um die russischen Truppen nicht nach Kiew reinzulassen. Kiew steht. Und doch: erste Meldungen von Bekannten, dass sie ihre Häuser verloren haben. Entsetzen.

Wir zucken zusammen. Mariupols Entbindungsklinik wird von den „brüderlichen“ Bomben getroffen. Keine Worte.

Tanjas Kollegin schreibt aus Kiew: „Dritte Woche Krieg, ich laufe nicht mehr weg, ich erkenne schon am Geräusch, wo der Tod fliegt, ob das weit ist. Es beruhigt mich, wenn ich, im Korridor sitzend, einen Artikel schreibe und meine Materialien kopiere.“

Tanja überlegt, ob sie die nächste Kreditrate für ihre vor Kurzem erworbene neue Wohnung abzahlen muss. Die Bank regt an zu zahlen. Das Haus stehe ja. Noch.

Ich prüfe, wie meine Lieblingsmarken aus Deutschland reagieren. Werden sie ihr Business in Russland einstellen? Mein Lieblingsstaubsauger Miele, mein sicherer Boiler Bosch, unser geräumiger Volkswagen Caddy. Enttäuscht mich nicht. Für euch steht wirtschaftlicher Verlust auf dem Spiel. Für uns der Verlust der Heimat. An diesen deutschen Marken brachte ich Deutschanfängern gewöhnlich bei, bestimmte Buchstabenkombinationen zu lesen. Miele – langes i; Bosch – sch; Volkswagen – v als f.

Tränen sind nicht immer aus Mitleid: In Russland weinen sie, weil ­McDonald’s schließt und Instagram abgeschaltet ist. Wir weinen wegen der getöteten Menschen, getöteten Kinder, der zerstörten Städte.

Die größten Sorgen der ukrainischen Bevölkerung: Die Zeit für die Aussaat rückt immer näher, Felder müssen bestellt werden, haut ab, wir müssen unsere Gärten bepflanzen. Die Kornkammer Europas brennt und blutet.

Ostap bekommt immer mehr mit. Am Telefon sagt er seinem Opa, dass sein Papa nun im Krieg sei. Er quengelt nicht mehr. Besorgt fragt er, ob unser Hochhaus in Kiew noch steht. Dort seien seine Spielsachen. Vom humanitären Hilfstransport bekommen wir deutsche Puzzles. Ostap freut sich.

Ein gelber Transporter steht in einer Straße

„Guten Abend, wir sind aus der Ukraine“ klebt auf der Windschutzscheibe Foto: privat

Ich habe Angst, dass die Welt der Kriegsberichte aus der Ukraine müde wird und dass man unser Leid vergisst. Doch ein Strom von Geflüchteten wird daran erinnern.

Es scheint mir, ein Wendepunkt: In der übelsten russischen Talkshow Solowjows hören wir: „Wozu sollte man das alles beginnen, wenn nach zwei Wochen ‚Operation‘“ – ihm entgleitet das Wort ‚Krieg‘ – „keine bedeutende große Stadt eingenommen wurde?“

Jemand schreibt: Wie steht es denn mit Covid? Sie sollen uns mal was berichten. Wir wollen uns doch entspannen.

E-Mails kommen Tag und Nacht. Danke, Bernhard, ich weiß, dass dein Haus offen ist. Danke, Renate, deine Spenden sind überwältigend.

Mein schmerzhaftes Glück

Als ich im August 1991 Studentin der Iwan-Franko-Universität wurde, wurde auch die Ukraine unabhängig. Ich war doppelt glücklich. Die Ukraine wurde als Staat geboren. Das zweite Mal empfand ich diesen euphorischen Zustand, als ich ein Kind zur Welt brachte. Ich könnte mich nie ganz glücklich fühlen, wenn meine Heimat nicht frei wäre.

Mein schmerzhaftes Glück. Mein brennender Stolz.

Luftalarme gibt es nun auch hier in Uschgorod. Der Krieg schleicht sich heran. Da ich viel zu tun habe, denke ich immer noch nicht an die Flucht ins Ausland.

Walentina, Tochter ukrainischer NS-Zwangsarbeiter, die ich mal nach Bayern begleitet habe, schickt mir ein Foto von ihrem 12-jährigen Enkel, der sich zusammen mit ihr und Mama in einem Dorf bei Kiew verstecken muss. Der Junge hat graue Haare bekommen und schreit nachts im Schlaf. Er träumte von einer glücklichen Zukunft, lernte vier Sprachen. Diese Zukunft will man ihm wegnehmen. Das zerreißt ihr Herz …

Heute ist es einen Monat her, dass wir Kiew verlassen haben. Die Uhr tickt. Jeder Tag kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Aber was ist ein Monat Krieg im Vergleich zu vier Jahren, die die Ukrainer und Ukrainerinnen im Zweiten Weltkrieg erleiden mussten? Aus der globalen Perspektive teilt man die historischen Perioden in Jahrzehnte und Jahrhunderte, Menschen rechnet man in Tausenden und Millionen. Ich aber spüre, wie für mich jeder Tag, jedes Kind, jeder Mensch zählt.

„If we fall, you fall.“ So ist es, Wolodymyr Selenski.

Stoppt Putin! Stoppt den Krieg! Er ist vor euren Türen!

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