piwik no script img

Notfall im ZugDas Arzt-Gefühl

Im Bordbistro wurde ärztliche Hilfe benötigt. Zufällig war ich zugegen und erlebte wie es sich anfühlt, für eine Ärztin gehalten zu werden.

Medizinischer Notfall im Alltag: Zum Glück ist meistens jemand da, der helfen kann Foto: dpa-Zentralbild/dpa | Klaus-Dietmar Gabbert

Wir benötigen einen Arzt oder eine Ärztin. Wenn es einen Arzt oder eine Ärztin unter Ihnen gibt: Bitte kommen Sie ins Bordbistro.“ Es ist eine dieser Durchsagen, die alarmieren und Bilder in Gang setzen: Was ist wohl passiert? Schwebt da eine Person in Lebensgefahr?

Ich gehe gerade zufällig durch den schwankenden Zug ins Bordbistro, als der Hilferuf erklingt. In Zügen oder Flugzeugen rührt es mich auf eine unbestimmte Weise, wenn nach Ärztinnen und Ärzten ausgerufen wird und Menschen, die ich vorher nicht als Helfende erkannt habe, aufspringen und forteilen – Personen, die zufällig da sind und helfen können.

Situationen in solchen begrenzten Räumen zeigen, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Und anscheinend ist immer ein Arzt oder eine Ärztin da. Ich frage mich schon länger, wie das sein kann. Wie sich da etwas fügt, wenn sich ein Notfall ereignet. Immer springen Menschen auf, als wären sie zuvor dorthin gesetzt worden. Immer ist da jemand.

Als ich nun durch den Gang auf das Bordbistro zugehe, frage ich mich, wie ich reagieren soll. Ich habe riesigen Durst und nichts zu trinken dabei. Ich hatte mir zuvor schon länger überlegt, ob ich mich durch den vollen Zug zum Bordbistro aufmachen soll. Als mein Hals ganz trocken geworden war, habe ich den Weg von ganz hinten im Zug angetreten.

Nun, kurz vor dem Restaurant, denke ich: Darf ich das? Weitergehen bei einem Notfall? Aber den ganzen Weg wieder zurückgehen, bei mehreren Stunden Fahrt vor mir? Ich entscheide, mir vor Ort ein Bild der Lage zu machen und bei Bedarf umzukehren. Während ich nun weitergehe, schauen mich die anderen Fahrgäste an. Einige rücken vor mir zurück. Sie lächeln mich an oder blicken interessiert.

Es ist ein anderer Blick, mit dem ich angesehen werde. Nur eine Nuance verschieden, aber es ist nicht der Blick, den ich sonst auf mir spüre. Und dann verstehe ich es. Die anderen im Zug scheinen zu glauben, dass ich eine Ärztin sei, auf dem Weg zum Einsatz im Bordbistro. Ich sehe in den Augen Respekt, Neugierde, vielleicht sogar Bewunderung.

Ein besonderes Gefühl

Für einen kurzen Moment bin ich durch den Blick der anderen eine Ärztin. Und für eine Sekunde stelle ich mir vor, diese Person zu sein. „Ich bin Ärztin, lassen Sie mich durch.“ Die entscheidenden Fähigkeiten zu besitzen, um nun einen Menschen zu retten. Es ist ein schönes Gefühl. Es ist ein besonderes Gefühl. Und es ist ein falsches Gefühl. Zwei Personen laufen hinter mir im Gang. Sie wirken geschäftig. Eine junge Person und eine ältere im Trenchcoat. Ich verstehe, dass sie helfen können und lasse sie vorbei. Hinter den beiden läuft auch noch ein Soldat.

Ich blicke ihnen nach. Sie umgibt etwas, was mir schon häufiger an Ärztinnen und Ärzten aufgefallen ist, die spontan für einen Notfall aufspringen. Sie wirken konzentriert und gleichzeitig erwartungsvoll. Sie können nun etwas aus ihrem Berufsleben im alltäglichen Leben einsetzen.

Sie haben diesen Blick von Menschen, die ganz mit sich im Fokus sind. Sie wirken nie gelangweilt oder genervt, dass sie jetzt in ihrer freien Zeit gestört werden. Eher etwas aufgeregt, gespannt und voller Elan. Ob sie auch diesen Blick von Respekt und Neugierde auf sich spüren oder haben sie sich an ihn gewöhnt?

Ein Arzt an Bord

Als ich am Bordbistro ankomme, stehen da nun mehrere Ärztinnen und Ärzte. „Ich bin Kinderärztin“, sagt eine. „Ich bin Internistin“, sagt eine andere und tritt unmerklich etwas vor, als würde sie das mehr befähigen. Für einen kurzen Moment scheint es einen Wettbewerb unter den Helfenden zu geben. Aber dann löst sich intuitiv etwas und professionell setzt sich ein Mechanismus in Gang.

Zwei Personen treten in die Nische des Bordbistros, wo Hilfe verlangt wird. Ja, denke ich: Bei allem, was in der Welt um uns beanstandet wird, gibt es auch das. Bei einer Durchsage für ärztliche Hilfe gibt es auf wundersame Weise immer eine Person, die helfen kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Christa Pfafferott
Autorin
Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Ein schöner Artikel mit wundervollen Gedanken!



    Ja, das ist gelebte Menschlichkeit: Jemand braucht Hilfe, jemand hilft. Es gibt Berufe, in die das mehr eingeschrieben ist als in andere.

    Ich kenne Polizisten, die in ihrer Freizeit zum Lebensretter wurden. Es gibt nichts Schöneres und Wichtigeres, meines Erachtens.

    Ein Hoch auf die Tausenden, die dazu berufen sind! Und in ihrem Brotberuf oft schlechter als schlecht bezahlt werden, von der gesellschaftlichen Nicht-Anerkennung ganz zu schweigen...