„Nordkurier“ bekommt Konkurrenz: Der Gute, der Böse, das Drama
Das Lokalblatt „Nordkurier“ fällt zunehmend durch seine Nähe zur „Querdenken“-Bewegung auf. Das Start-up „Katapult MV“ möchte dem etwas entgegensetzen.
Auf den ersten Blick wirkt das, was gerade im Nordosten Deutschlands passiert, wie eine kleine Medienrevolution: eine digitale Erfolgsgeschichte im Lokalen. Da ist auf der einen Seite die Lokalzeitung, der Nordkurier, die immer wieder durch eine Nähe zu Querdenker*innen auffällt. Deren Chefredakteur gegen den „Erziehungsjournalismus“ anderer Medien wettert. Auf der anderen Seite ist da das Katapult-Magazin, das kleine erfolgreiche Medien-Start-up: Junge Leute, die ein Magazin gegründet haben, in dem sie mit schicken Grafiken die Welt erklären. Das Magazin wächst rasant. Und weil sich der Chefredakteur von Katapult so ärgert über die Lokalzeitung, gründet er eine eigene. In kurzer Zeit kriegt er das Geld dafür zusammen. Die Erwartungen sind riesig.
Ein Medienmärchen in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Der Böse, der Gute, das Drama, die Rettung. Eingebettet in Zeitungskrise, Medienwandel, gespaltene Gesellschaft. Es könnte so schön sein.
Jürgen Mladek winkt energisch, als er aus seinem Auto steigt. Mladek, 53 Jahre alt, Sakko, Rollkragen, grauer Bart, wollte sich lieber persönlich treffen, statt zu telefonieren. Es ist viel über ihn geschrieben worden, vieles fand er unfair. Mladek ist Chefredakteur des Nordkurier und hat eigentlich keinen Grund, sich zu ärgern, denn seiner Zeitung geht es gut. Knapp 60.000 Exemplare werden täglich verkauft, bei 220.000 Haushalten im Verbreitungsgebiet. Das ist viel für eine Lokalzeitung, selbst wenn sie, wie der Nordkurier, die einzige ist, die in der Gegend erscheint.
„Wie auf einer rebellischen Insel im Meer der Einförmigkeit“, fühle er sich mit seiner Heimatzeitung, schrieb er vor einem Jahr. Das gelte heute mehr denn je. „Anders als viele andere Zeitungen erklären wir unseren Lesern nicht belehrend, was sich die Regierung ausdenkt. Wir sagen den Regierenden, was die Menschen von ihrer Politik halten“, erzählt er beim Treffen mit der taz.
Auffallend wohlwollend
Viele Medien seien durch Corona in eine „Schockstarre“ verfallen. Am Anfang habe auch er Corona als Bedrohung begriffen. Auf Verlagskosten hat er eine Sonderausgabe drucken lassen, die vor der Pandemie warnt. Sie wurden kostenlos an alle Haushalte verteilt. Aber mit der Zeit bekam Mladek Zweifel, ob die staatlichen Maßnahmen verhältnismäßig sind.
Das lässt sich auch im Nordkurier nachlesen – und mehr noch: Dort erscheinen immer wieder Texte und Interviews, die auffallend wohlwollend mit der Querdenken-Bewegung umgehen. Geschrieben sind sie meist von der Textchefin Simone Schamann. Seit über einem Jahr berichtet sie fast ausschließlich über Corona. Als Expert*innen zieht sie immer wieder Menschen aus dem Querdenken-Spektrum heran, interviewt sie ohne kritische Nachfrage. Schamann berichtet „Vom stressigen Leben im Corona-Widerstand“ eines Maskenverweigerers und schreibt, das Gefährlichste an Querdenken-Demos seien „linke Querdenken-Hasser“. Ein Kinderbuch, in dem ein tätowierter, Bier trinkender Hase als „Querdenker“ beschrieben wird, ist für sie „Querdenker-Hetze“. Nach ihrem Artikel nimmt der Verlag das Buch vom Markt.
Aus der Querdenken-Bewegung bekommt Schamann viel Applaus. „Schamann ist eine der wenigen Journalistinnen im Mainstream, die man überhaupt noch ernst nehmen kann“, schreibt ein Leser. Allerdings steht der Euphorie auch heftige Kritik gegenüber. Bei Twitter haben sich für Schamanns Texte die Hashtags #Quarkkurier und #Querkurier etabliert.
Auch Redakteur*innen des Nordkurier stören sich an den Texten von Schamann. „Peinlich“ seien sie, erzählen Mitarbeiter*innen, die anonym bleiben wollen. Der interne Streit sei heftig gewesen. Dass nicht die gesamte Redaktion auf Querdenken-Linie ist, erkennt man von außen. In der Zeitung finden sich immer wieder kritische Recherchen zur AfD oder über rechte Bürgermeisterkandidaten. Beim Nordkurier herrsche ein hohes Maß an Freiheit, erzählen Leute aus der Redaktion. Jede und jeder könne selbst entscheiden, worüber er oder sie schreibe.
Simone Schamann möchte auf taz-Anfrage nichts sagen. In einem Interview hat sie sich kürzlich damit verteidigt, dass sie eine der wenigen Journalistinnen sei, die Querdenken unvoreingenommen begegne. Die Berichterstattung der anderen sei tendenziös und herablassend.
Leser*innen rechts der Mitte
Auch Chefredakteur Mladek ist stolz auf diese Berichte. „Super“ sei es, dass der Nordkurier die „Breite der Debatte“ abbilde. Er lasse sich von niemandem das journalistische Handwerk diktieren. Der Nordkurier werde sich nicht dem „Tugendschaufenster“ Twitter beugen. Mladek gibt gern den ostdeutschen Underdog, der gegen einen vermeintlich politisch-korrekten Mainstream anschreibt. Er selbst ist kein Ostdeutscher, geboren ist er im Odenwald, 1991 kam er nach Leipzig.
Er sieht es als seine Aufgabe, sagt er, auch Leser*innen rechts der Mitte beim Nordkurier zu halten. Die rechten Anschläge von Halle und Hanau bringt er im Gespräch mit der taz durcheinander, kann aber detailliert erklären, warum das Pflanzengift Glyphosat eine gute Sache ist für die Landwirtschaft. MV ist ein Land der konventionellen Landwirte. Und es ist ein Land der Rechten. Bei der letzten Landtagswahl wählte knapp jeder Vierte die AfD, Neonazis sind hier besonders aktiv.
„Das, was der Nordkurier macht, ist kein Spaß“, sagt deswegen Benjamin Fredrich. Er betreibt selbst eine Redaktion in MV. Sie heißt Katapult, sitzt in Greifswald und Fredrich ist ihr Gründer, Verleger, Chefredakteur, Herausgeber, Chef von 34 Angestellten. 2016 gründete Fredrich Katapult. Die Idee: Journalismus mit Grafiken. Wohin die EU ihren Müll verschifft, Rechtsterrorismus in Deutschland, aber auch kriminelle Vorfälle mit Seegurken – Fredrich will Wissenschaft und Journalismus verbinden.
Jung und digital
Katapult ist der Gegenentwurf zum Nordkurier: Das Magazin spricht vor allem junge Leute an, es funktioniert gut im Netz und beschäftigt sich mit Themen wie globaler Ungleichheit, Sexismus und Rassismus. Den Nordkurier beobachtet Fredrich schon lange. Er findet, die Redaktion hetze ihre Leserschaft gegen Minderheiten auf und gehe nicht gegen menschenverachtende Kommentare in sozialen Netzwerken vor. „Einige Leute vom Nordkurier sind waschechte Rassisten, die die Mordfantasien ihrer Leser erst schüren und anschließend auf ihren Kanälen dulden. Damit verletzen sie gleichzeitig den Pressekodex und das Grundgesetz“, schrieb Fredrich im Sommer und bekam dafür viel Applaus.
„Das ist alles saugefährlich“, sagt Fredrich im Gespräch mit der taz. „Unsere Strukturen in Mecklenburg sind schwach und wenn ein paar Idioten hier gewalttätig werden, dann liegt das auch daran, dass die einzige Lokalzeitung in dem Gebiet Rassismus duldet.“
Und weil ihn das alles so nervt, gründet Fredrich nun eine eigene Lokalzeitung. Das hat ja schon einmal geklappt: An Katapult hat am Anfang außer Fredrich kaum jemand geglaubt, mittlerweile erscheint das gedruckte Heft vier Mal im Jahr, 84.000 Menschen haben es abonniert, die Kurve geht steil nach oben. Im Internet hat Katapult eine Reichweite, von der der Nordkurier nur träumen kann.
Ende März dieses Jahres rief Fredrich im Internet zu Spenden auf für Katapult MV, die neue Lokalzeitung. Innerhalb von vier Tagen sammelt er 19.000 Euro, die ab sofort monatlich reinkommen. Damit ist das Projekt finanziert. Fredrich und sein Team können es selbst kaum glauben. „Aufrichtigen Lokaljournalismus“ will er anbieten, eine Onlinezeitung mit Karten, Daten, Texten und Fotos über alles, was die Menschen zwischen Neubrandenburg und Schwerin interessiert.
Euphorisch twittern Journalist*innen und Lokalpolitiker*innen, dass sie gespendet haben. Katapult MV, so klingt es bei einigen, rettet die Demokratie. Vier Leute wurden eingestellt, 3.150 Euro brutto im Monat sollen sie verdienen, das entspricht etwa dem Tarifgehalt. Spätestens Anfang Juni soll Katapult MV starten. Und Fredrich will mehr: Die Finanzierung läuft weiter, er will Büros in ganz MV eröffnen. Mehr als 3.600 Menschen unterstützen Katapult MV mittlerweile.
Für den Nordkurier ist wie aus dem Nichts echte Konkurrenz gewachsen: Die Leserschaft des Nordkurier ist wie bei allen gedruckten Zeitungen eher alt. Und junge Menschen in Ost-Mecklenburg haben jetzt plötzlich eine junge, coole, digitale Alternative, die nur fünf Euro im Monat kostet. Woher die Abonnent*innen kommen, weiß Fredrich nicht. Sie geben ihm einen Vertrauensvorschuss, er profitiere da, glaubt er, von dem guten Ruf von Katapult.
Diesen Ruf verdankt er auch seiner Lautstärke. Was Fredrich nicht passt, skandalisiert er im Netz. Der Süddeutschen warf er vor, Grafiken von Katapult geklaut zu haben. Dem Schulbuchverlag Cornelsen warf er vor, ihn zu erpressen. Die Süddeutsche stellte ihre Grafik-Rubrik daraufhin ein, Cornelsen entschuldigte sich.
Wütend gegen „Übermedien“
Fredrich hat Erfolg mit seiner Art, aber nicht immer scheint sie angemessen. Kürzlich wütete er gegen den Medienblog Übermedien. Dort war ein kritischer Bericht über Fredrichs Roman erschienen, in dem sich Menschen aus Fredrichs Umkreis diffamiert gefühlt hatten. Fredrich goss seinen Furor in einen Text mit 28.000 Zeichen, das entspricht drei dichtbedruckten taz-Seiten.
Er veröffentlichte den Mitschnitt des Gesprächs, das der Übermedien-Redakteur Jürn Kruse mit ihm geführt hatte. Er wollte damit zeigen, dass Übermedien ihn angeblich getäuscht habe. Den Mitschnitt zu veröffentlichen sei zwar „nicht legal, aber legitim“, schrieb Fredrich dazu. Fredrich, der anderen vorwirft, sich nicht an Regeln zu halten, macht sich seine Regeln einfach selbst. Seinen Wuttext illustrierte er mit einem Foto, das Kruse neben Ex-Bild-Chef Kai Diekmann zeigt. Wer mit Diekmann posiert, sollte das wohl heißen, versteht nichts von Journalismus. Fredrich, der anderen vorwirft, von Katapult zu klauen, hat das Foto von Diekmanns Twitterprofil ohne zu fragen geklaut. Man könnte sagen, der Hoffnungsträger des norddeutschen Lokaljournalismus arbeitet selbst mit Bild-Zeitungs-Methoden.
Fair ist das nicht, journalistischen Standards entspricht das auch nicht. Auch den Nordkurier hat er nie konfrontiert mit seinem Vorwurf, die Zeitung betreibe systematisch Rassismus, um Geld zu verdienen. Gesprächseinladungen von Mladek hat er abgelehnt. In der Wissenschaft, aus der er ja stamme, müsse man andere Wissenschaftler auch nicht konfrontieren, wenn man über deren Arbeit schreibe, sagt Fredrich.
Er sei hier kein neutraler Beobachter, sondern „im Schützengraben“. Nur sind Frontkampf und Lokaljournalismus zwei sehr verschiedene Dinge, selbst in MV.
Die alte, rechte Lokalzeitung gegen das coole, linke Medien-Start-up, ganz so einfach ist es eben nicht. Hört man sich um unter denen, die in MV für die Demokratie kämpfen, Initiativen und Vereine gegen Rechtsextremismus, dann warten da einige gespannt auf Katapult MV. Auch sie stören sich am teils rechten, verschwörerischen Sound des Nordkurier. Aber sie sagen auch, dass sich einige Redakteur*innen vor Ort zuletzt besonders bemüht hätten, linke Initiativen ins Blatt zu holen. Ende September jedenfalls wählt MV einen neuen Landtag. Es sind gute Zeiten für Lokaljournalismus, eigentlich.
Der Übermedien-Redakteur Jürn Kruse war bis Januar 2020 Redakteur der taz.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, das Verbreitungsgebiet des Nordkurier bestünde aus 220.000 Einwohnern. Es sind aber 220.000 Haushalte.
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