Nordische Filmtage Lübeck: Traurig, aber schön
Ein Hang zu Melancholie zeichnet das Programm der Nordischen Filmtage Lübeck aus. Das skandinavisch-baltische Kino ist ein Krisenseismograf.
Geballte Schwermut in Lübeck: „Die Menschheit hat den Verstand verloren“, „Das letzte Paradies auf der Erde“ und „Einmal wirst du einer von denen sein, die vor langer Zeit gelebt haben“ lauten auf Deutsch drei Titel aus dem Programm der diesjährigen Nordischen Filmtage. Sie sind am Sonntag zu Ende gegangen. Gezeigt wurden, das macht den besonderen Reiz des Festivals aus, vor allem Produktionen aus den nordischen und baltischen Ländern.
Nun war nicht das gesamte Filmprogramm von Endzeitstimmung geprägt. Aber es fiel schon auf, dass etwa unter den 13 Spielfilmen im Hauptwettbewerb nur 2 Komödien zu finden waren, darunter mit „Therapie für Wikinger“ von Anders Thomas Jensen auch der Eröffnungsfilm.
Gerade in den baltischen und nordischen Ländern beeinflussen die Krisen, infolge der geografischen Nähe zum Krieg in der Ukraine einerseits und andererseits wegen der besonders starken Klimaabhängigkeit von Landwirtschaft und Fischfang in Skandinavien, die Lebensumstände von vielen Menschen. Filme wirken in solchen Zeiten oft wie seismologische Sonden. Und dies in teils ganz erstaunlichen Kontexten: Im deutsch-skandinavischen Dokumentarfilm „Astrid Lindgren – Die Menschheit hat den Verstand verloren“ von Wilfried Hauke, der in der Reihe „Specials“ Weltpremiere feierte, werden zum Beispiel die von 1939 bis 1945 geführten Kriegstagebücher der Kinderbuchautorin vorgestellt: Schweden war damals neutral. Lindgrens Beobachtungen, Ängste und Analysen haben heute einen überraschenden Resonanzraum. Ihre Tochter spricht es sogar im Film direkt an: „Das war für Astrid genauso, wie es uns jetzt mit der Ukraine ging“, sagt sie an einer Stelle.
Der Film hat drei Ebenen. Auf einer rezitiert eine Schauspielerin ausgewählte Einträge aus den Notizbüchern Astrid Lindgrens, auf der zweiten erzählen deren Tochter und Urenkel davon, wie sie Astrid Lindgren erlebt haben und auf der dritten Ebene bekommen die Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft mit zum Teil noch nie öffentlich gezeigten historischen Archivbildern eine erschütternde Präsenz.
Übermensch in Form eines kleinen Mädchens
Astrid Lindgren war damals noch keine publizierte Schriftstellerin. Statt dessen arbeitete sie in der schwedischen Zensurbehörde, wo sie in Auslandspostsendungen jene Passagen schwärzte, durch die kriegswichtige Informationen über Schweden an die Deutschen hätten weitergegeben werden können. So war sie gut über den Krieg und die Zustände in Deutschland informiert und konnte erstaunlich hellsichtige Analysen schreiben.
Ganz nebenbei wird in dem Film auch die Entstehungsgeschichte ihres ersten Romans und größten Erfolgs „Pippi Langstrumpf“ erzählt, deren Ursprung die Gutenachtgeschichten waren, die sie ihrer oft kränkelnden Tochter erzählte. Und dabei erfand sie dieses anarchistische Supergirl als einen Gegenentwurf zum deutschen Herrenmenschen. Sie selber nennt sie in einer Art Beipackzettel für die schwedischen Verleger einen „Übermenschen in der Form eines kleinen Mädchens“.
„Das letzte Paradies auf Erden“ (Det sidste paradis på jord) lief im Spielfilmwettbewerb und ist einer der wenigen Filmen, die auf einer der Färöer-Inseln und in der Sprache der dort lebenden Menschen gedreht wurden. Der Regisseur Sakaris Stórá hat dort selbst in seiner Jugend gelebt und in einer Fischereifabrik gearbeitet. Und so erzählt er hier von jungen Menschen auf der Insel Suðuroy, die ihre Arbeit und ihre Zukunft auf der Insel verlieren, da durch den Klimawandel im wärmeren Meer immer weniger Fische gefangen werden.
So schließen die einzigen Arbeitsplätze der Region. Stórá bringt es im Filmgespräch in Lübeck witzig auf den Punkt, wenn er sagt, auf den Inseln lasse sich nur mit „Fisch und Lachs“ Geld machen. Der Film ist eine feinsinnige und mit viel Liebe zu den Menschen und ihrer Heimat inszenierte Coming-Of-Age-Geschichte, in der von einer Handvoll junger Menschen erzählt wird, die lernen müssen, damit zu leben, dass sie gerade aus ihrem Paradies vertrieben werden.
Der Untergang einer Welt
„Einmal wirst Du einer von denen sein, die vor langer Zeit gelebt haben“ (En gång skall du vara en av dem som levat för längesen) ist schließlich ein schwedischer Film, der im Dokumentarfilmwettbewerb lief. Die beiden Regisseure Alexander Rynéus und Per Bifrost dokumentieren hier den Untergang einer Welt – und zwar nicht allegorisch, sondern ganz konkret. Die nordschwedische Kleinstadt Malmberget liegt am Rand einer Eisenmine und dadurch wurde der Boden unter ihr so untergraben, dass Einsturzgefahr für die Häuser besteht.
Die Filmemacher haben einige von den letzten BewohnerInnen einer Geisterstadt porträtiert, denn die meisten Menschen von dort sind schon umgesiedelt worden. Der Film ist eine melancholische Meditation über das Vergehen – mit grandios fotografierten Bildern von der Stadt, die immer mehr verschwindet und den Menschen, die sich notgedrungen mit einer der großen philosophischen Fragen konfrontiert sehen: Wer sind wir, und wo gehen wir hin?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert