Norbert Röttgen und der CDU-Vorsitz: Der Überraschungskandidat
Niemand hatte Norbert Röttgen auf dem Zettel. Mit seiner Ankündigung, ebenfalls CDU-Chef werden zu wollen, setzt er seine Wettbewerber unter Druck.
Merz, Spahn und Laschet – diese Namen werden seit Tagen mantraartig genannt. Aber Röttgen hatte keiner so wirklich auf dem Zettel, bei allen Spekulationen spielte der 54-jährige Jurist aus Nordrhein-Westfalen keine Rolle. Und plötzlich will er der wichtigste Mann in der CDU werden, vielleicht der nächste Kanzler?
Auch wenn Röttgen eher Außenseiterchancen haben dürfte: Sein Vorstoß ist nicht ungeschickt, allein deshalb, weil er seine Wettbewerber mit drei Zügen in die Defensive bringt.
Er ist – wie er zu Recht anmerkt – der Erste, der seine Kandidatur offen erklärt und inhaltlich begründet. Friedrich Merz ließ über sein Umfeld streuen, Vorsitzender werden zu wollen. Gesundheitsminister Jens Spahn erklärte vage, bereit für Verantwortung zu sein. Und Armin Laschet, Ministerpräsident in NRW, bleibt bisher komplett in der Deckung. Röttgen setzt sie mit seinem Move unter Druck.
Wie bei einer Jacke?
Dann wäre da das vermurkste Verfahren. Kramp-Karrenbauer will diese Woche Gespräche mit den Möchtegernkandidaten führen, obwohl jene sich noch gar nicht erklärt haben. In der CDU wünschen sich viele eine Teamlösung, also eine gütliche Einigung, obwohl es um einen einzigen Chefjob geht.
Röttgen sagt, er habe den Verdacht, dass in diesem Falle das Team dazu dienen solle, die Interessen Einzelner unter einen Hut zu bringen. Das bisherige Verfahren habe ihn „nicht überzeugt“. Es sei wie bei einer Jacke. „Wenn man schon am ersten Knopf falsch knöpft, wird das so nichts mehr.“ Wer wollte ihm widersprechen?
Und, drittens, wären da die fehlenden Inhalte. Röttgen liegt richtig, wenn er kritisiert, dass seit Kramp-Karrenbauers Ankündigung kaum über Themen geredet wurde. Röttgen macht es anders. Die CDU müsse ökologische Glaubwürdigkeit im Allgemeinen und klimapolitische Glaubwürdigkeit im Besonderen zurückgewinnen, sagt er. „Wenn wir das nicht tun, droht uns als Partei mindestens eine ganze Generation verloren zu gehen.“
Der Außenpolitiker fordert, früher auf absehbare Krisen zu reagieren – wie aktuell die Vertreibung von fast einer Million Syrer in der Provinz Idlib. „Das ist ein akutes Geschehen, über das wir kaum sprechen.“ Zwischen Ost- und Westdeutschen wolle er, falls er CDU-Chef werde, einen Dialog auf Augenhöhe über das Funktionieren der Demokratie in Gang bringen.
Böse Seitenhiebe in Richtung Merkel
Röttgen redet ruhig, seine Wangen sind ein bisschen gerötet. Falls er aufgeregt ist, merkt man es nicht. Er übt brachiale Kritik an der Politik der vergangenen Jahre. Was die Bürger in der Krisendekade von Finanzmarkt-, Euro- und Flüchtlingskrise erlebt hätten, sei „Überraschung der Politik, Überforderung der Politik und Reagieren und Reparieren“.
Das sind böse Seitenhiebe, in dieser Zeit hat ununterbrochen Angela Merkel regiert. Wenn Menschen allein gelassen würden, sagt Röttgen, bekämen sie Angst. „Wir müssen auch in der CDU die Fenster öffnen dafür, dass Politik wieder einzieht.“ Noch ein Hieb.
Röttgen verbindet mit Merkel eine besondere Geschichte. Einen ersten Höhepunkt erreichte seine Karriere im Januar 2005, als er zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion gewählt wurde. Röttgen managte fortan die Auftritte im Parlament, wurde zur rechten Hand der damaligen Oppositionsführerin Merkel und zählte zu einer Gruppe jüngerer Abgeordneter, die als „Merkel-Garde“ bezeichnet wurde.
2009 machte Merkel ihn zum Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Als solcher arbeitete er weniger progressiv, als es seine aktuellen Äußerungen zur Ökologie vermuten lassen. Röttgen setzte zum Beispiel die schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke durch, obwohl er für kürzere Fristen warb als andere in seiner Partei.
Röttgen hat sich neu erfunden
Der Wendepunkt seiner Karriere war Nordrhein-Westfalen. Röttgen setzte sich 2010 in einer Mitgliederbefragung im Kampf um den Landesvorsitz durch – ausgerechnet gegen den heutigen Ministerpräsidenten Laschet. Die Landtagswahl 2012, bei der Röttgen als Spitzenkandidat gegen die Sozialdemokratin Hannelore Kraft antrat, endete mit einem Debakel. Röttgen ließ im Wahlkampf alle im Unklaren, ob er im Zweifel als Oppositionsführer nach NRW gehen oder Umweltminister bleiben wolle. Das Ergebnis: Die CDU stürzte auf ein historisches Tief von 26,3 Prozent ab.
Danach versuchte Röttgen tatsächlich, in Berlin weiterzumachen wie bisher. Merkel stellte ihm kurzerhand den Stuhl vor die Tür. Seither hat sich Röttgen jedoch neu erfunden. Er konzentrierte sich auf Außenpolitik, übernahm 2014 den Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses und wurde ein gern gesehener Gast in Talkshows. Und das Desaster in NRW? Röttgen sieht es als Qualifikation. Eine Niederlage erlebt, aber wieder aufgestanden zu sein, das sei beides wichtig „für die Übernahme großer Verantwortung“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen