piwik no script img

Niedersachsen vor der WahlTagesausflüge nach Wolfsburg

Die Stadt ist mehr als VW und VfL. Ein Plädoyer gegen stumpfe Witze und Vorurteile.

VfL Wolfsburg – ein Leben für die Stadt und den Fußball Foto: Dennis Ewert/imago

Wolfsburg taz | Wer die Story schon mal gehört hat, den bitte ich um Nachsicht, jedenfalls bin ich Schwabe und wurde als Fan des VfB Stuttgart geboren und erzogen. Entschied mich dann aber unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der Aufklärung, mein Menschenrecht auf Freiheit in Anspruch zu nehmen und nicht als Fan des VfB zu sterben.

Das ruft bei normalen, also reaktionären Fußballfans Ablehnung und sogar Abscheu hervor. Das darf man doch nicht! Möglicherweise hängen die negativen Reaktionen auch damit zusammen, dass mein emotionales Interesse seither dem VfL Wolfsburg gilt.

Interessanterweise wird diesen Gefühlen ständig misstraut. Ich betreibe „Hirngewichse“ rief mal ein Journalistenkollege empört, der als Fan des 1. FC Köln allerdings kein Hirnspezialist sein dürfte. Sie seien „echte Liebe“, sagten ein paar BVB-Fans vor einem DFB-Pokal­finale zu meinem Sohn und mir. Wir dagegen seien „Plastik“. Ich weiß jetzt gar nicht, ob diese Anhänger auch BVB-Aktionäre waren, aber ich weiß, dass nach dem Spiel unsere Pokalsiegergefühle mindestens so echt waren wie ihr Verliererschmerz.

Jedenfalls fahre ich seit zwanzig Jahren regelmäßig von Berlin über Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen. Eineinviertel Stunden vom Ostbahnhof nach Wolfsburg. Meistens gehe ich schnurstracks über den Mittellandkanal drüber und durch die Autostadt direkt in die VW-Arena und danach das Ganze rückwärts. Gelegentlich habe ich auch übernachtet, bin essen gegangen, ins Kunstmuseum oder ins Outlet.

Genervt von den „Stumpfmeiers“

Am Anfang habe ich selber Witze gemacht, über die Innenstadt, die VW-Dichte auf Straßen und Parkplätzen, die Katze-vom-Baum-gerettet-News der Lokalzeitungen. Heute bin ich unfassbar genervt, wenn wieder so ein Stumpfmeier sagt, dass die Stadt „ja von Hitler gegründet“ worden sei, Kraft durch Freude und so weiter. Dass der ICE mal nicht gehalten habe, obwohl er sollte. Immer gern genommen auch die Schnarchgeschichte von der Spielerfrau, die sich weigerte, nach Wolfsburg zu gehen.

Oder der Witz, dass die zuschauerfreien Spiele während der Pandemie ein riesiger Vorteil für Wolfsburg seien, denn dort sei man an die Totenstille im Stadion gewöhnt. Haha. Überhaupt musste ich feststellen, und ich sage das nicht gern, dass gerade die „links“ und „­progressiv“ sein wollenden urbanen Mitmenschen in der Regel überhaupt keine Solidarität mit den Arbeiterinnen und Arbeitern von Wolfsburg spüren, sondern auf sie herabschauen und das tun, was sie sonst als „rechten Humor“ verurteilen: nach unten lachen und höhnen.

Es ist selbstverständlich richtig, dass die VfL Fußball GmbH eine hundertprozentige VW-Tochter ist und sich dadurch enorme Wettbewerbsvorteile gegenüber manchen anderen Clubs ergeben, die diese verständlicherweise als ungerecht bezeichnen. Aber dafür können die Wolfsburger Leute und Fans nichts. Es ist zweitens eine Fehlannahme, in Dortmund oder Schalke sei der Fußball „wichtiger“ als in Wolfsburg.

Kultur leben weniger pathetisch

Gerade weil es sonst nur VW gibt, funktio­niert der VfL interessanterweise nicht als VW-Klon, sondern als etwas anderes in der Identität der Wolfsburger. Drittens ist der VfL seit 1997 in der Bundesliga, das heißt, die jüngeren Leute sind auch hier ganz normal mit ihrem Fantum aufgewachsen. Die Kultur wird einfach weniger pathetisch gelebt als anderswo.

Und dann dies noch: Heute ist der Verbrennungsmotor tot und die Frage offen, ob und wie die Stadt das überlebt. Aber Wolfsburg steht für die große sozialdemokratische Erfolgsgeschichte der fossilen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts. Arbeiter, die aufstiegen, bürgerlich wurden, mit Haus, Wohlstand und mit Kindern, für die es noch eins weiter raufging.

Starke Gewerkschaft, beträchtliche Einflussnahme im Unternehmen, hohe Löhne, politisch-unternehmerische Anbindung an das Bundesland – und die zeitweilige Vier-Tage-Woche eines gewissen Peter Hartz als Krönung. Wer als Linker nicht sieht und respektiert, dass Wolfsburg für das verwirklichte Aufstiegs-, Arbeiteremanzipations- und Wohlstandsversprechen der alten Bundesrepublik steht, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!