Neuköllns Postkartenkönig: Von Ruhm und Sehnsucht

Der Fabrikant Heinrich Ross bannte die Stars der Stummfilmzeit auf Fotopostkarten. Auf der Flucht vor den Nazis verlor der jüdische Neuköllner alles.

Werner Fuetterer und Dorothea Wieck in „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“, 1926 Foto: akg-images/arkivi

„Du, ich hab Dich so furchtbar lieb! Möchtest Du mir nicht ein einziges Mal ein Küsschen geben? Mein Muttchen ist gestorben – und ich bin so allein!“ In seinem am 25. Dezember 1919 in der Berliner Volkszeitung erschienenen Artikel „Briefe an einen Kinoschauspieler“ gab Kurt Tucholsky einen Einblick in die mitunter bizarre Welt einiger Filmstarfans. In diesem Fall sollte der Schauspieler Conrad Veidt das Küsschen geben, der natürlich weder die Schreiberin noch ihr „Muttchen“ persönlich kannte. Vermutlich hatte der Fan in seinem Heim eine Art Hausaltar für seinen Liebling errichtet und ihn mit Devotionalien wie Starpostkarten aus dem Hause Ross geschmückt.

Der am 10. August 1870 in Rokytno im damaligen Österreich-Ungarn geborene Heinrich Ross war gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin gekommen und bereits um 1902 im Berliner Adressbuch als „Fabrikant von Luxuspapierwaren“ in der Alexan­drinenstraße im heutigen Kreuzberg nachgewiesen, der auch „illustrierte Postkarten und Reklamemarken“ herstellte. 1907 gründete er die Ross-Bromsilber-Vertriebs-GmbH, aus der später der Ross-Verlag hervorging.

Als der Stummfilm die Kinos eroberte und die Menschen nach dem Ersten Weltkrieg in die Filmtheater strömten, setzte Ross vor allem auf Künstler-Postkarten, die in drei Serien unterteilt waren: Filmstars, „Bühnensterne“ und Filmszenen. Dabei hatten die Fans eine riesige Auswahl: Ross’ Angebot umfasste zu Höchstzeiten 40.000 verschiedene Motive.

Das produzierte zuweilen beinahe Suchtverhalten: Filmbesessene füllten ganze Alben mit ihren Lieblingen – Alben, für die Sammler heute viel Geld auf den Tisch legen müssen. Der Star hielt Einzug ins eigene Heim – und wurde damit nahbarer. Dabei stand der Name Ross für Qualität und Vielfalt und wurde unweigerlich mit seinem bekanntesten Produkt, der Starpostkarte, in Verbindung gebracht, deren Motive in renommierten Berliner Fotostudios wie Becker & Maaß oder Alexander Binder auf Zelluloid gebannt wurden.

Das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington D.C. ist eine von 22 nationalen amerikanischen Gedenkstätten für die Opfer des Holocausts. Das Online-Archiv bietet einen umfangreichen Bestand über die Geschichte der Irrfahrt der St. Louis, deren Passagier Heinrich Ross zusammen mit 936 anderen Juden war, von denen 254 den Holocaust nicht überlebten.

Betty Troper, an die Ross seinen dreiseitigen Bericht in einem Brief mit Datum vom 8. Juli 1939 (noch nicht online) schickte, war eine Mitarbeiterin der amerikanischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Committee, die unter anderem jüdische Emigranten finanziell unterstützte. Madame Troper, wie Ross sie voller Verehrung nannte, hatte mit ihrer „einzigartigen Aufopferungsfähigkeit“ bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen, weil sie ihm und anderen Flüchtlingen „Ruhe, Sicherheit und ein Gefühl der Geborgenheit“ vermittelt hatte. (bm)

1930 würdigte die Filmwoche Heinrich Ross zu seinem 60. Geburtstag mit einem Artikel. Da hätte sich der Fabrikant und Verleger eigentlich bereits zufrieden zurücklehnen und seinen Ruhestand planen können. Seine drei in Rixdorf geborenen Kinder Edith, Egon und Helene waren längst aus dem Haus.

Doch Ross hatte ein ausgefülltes Leben auch neben seiner Arbeit als Postkartenfabrikant. Seit 1922 war er erster Vorsitzender der von ihm mit gegründeten Jüdischen Brüdergemeinde von Neukölln unter dem Rabbiner Dr. Kantorowsky mit ihrer Synagoge in der Isarstraße 8. Und auch seine Ehefrau, Berta Ross, war seit 1926 Schriftführerin des Israelitischen Frauenvereins Neukölln, der unter anderem den Paragrafen 218, der seit 1871 Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte, bekämpfte.

Das Jahr 1933 brachte die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Zäsur. 1936 starb Berta, ein Jahr später wurde der Ross-Verlag „arisiert“. Der Name Ross blieb jedoch aufgrund seiner Popularität bis 1941 offiziell erhalten – während man den Namensgeber schon längst aus Deutschland vertrieben hatte.

Irrfahrt auf der „St.Louis“

Am 13. Mai 1939 schiffte sich Ross in Hamburg auf der zu einer verzweifelten Irrfahrt verdammten „St. Louis“ ein, die durch die Weigerung Kubas, das Schiff anlegen zu lassen, ausgelöst werden sollte. „Jeder von uns brauchte Monate, um in der alten Heimat alles zu liquidieren, sich von dem zu trennen, was man eben unter dem Begriff ‚Heimat‘ versteht“, schrieb Ross später in einem Bericht, der im United States Holocaust Museum archiviert wurde (siehe Kasten) – verfasst in der Retro­spektive am 8. Juli 1939 in London von einem Menschen, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal mehr sein Gepäck besaß.

Am 17. Juni 1939 durften die über 900 Flüchtlinge auf der „St. Louis“, von denen 254 den Holocaust nicht überleben würden, endlich in Antwerpen von Bord gehen und wurden von verschiedenen Gastländern aufgenommen. Heinrich Ross kam so nach London, und erst drei Jahre später, am 29. Oktober 1942, durfte er den Atlantik gen Amerika überqueren, wo bereits sein Sohn Egon und seine Tochter Edith mit ihrem Mann, dem Berliner Opernsänger Gerhard Pechner, lebten.

Am 19. April 1943 stellte Ross in den USA seinen Antrag auf Einbürgerung. Auf dem Antragsformular vermerkte er, dass er nicht wisse, wo sich seine Tochter Helene aufhalte, die in Berlin geblieben war. Zwei Jahre später kam die mittlerweile 48-Jährige in Berlin um und wurde vom Amtsgericht Schöneberg für tot erklärt. Gestorben war sie am 8. Mai 1945 – dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg endete.

Erst vier Jahre später, 1947, wurde aus dem staatenlosen Heinrich Ross in Chicago dann schließlich ein Amerikaner. Im Alter von 72 Jahren hatte der mittellose Mann noch eine Berufstätigkeit als Maschinenarbeiter annehmen müssen. Er hatte zwar bei einem der Berliner „Wiedergutmachungsämter“ im Rahmen der „Wiedergutmachung von NS-Unrecht“ einen entsprechenden Antrag auf Entschädigung gestellt, doch der im Verhältnis zum ursprünglichen Vermögen äußerst magere Geldbetrag sollte erst kurz vor seinem Tod ausgezahlt werden.

Doch auch wenn man ihm alles genommen hatte, seine Heimat, seinen Besitz und das Wissen um die genauen Todesumstände seiner Tochter, schien Ross mit dem Schicksal nicht zu hadern, sondern seine Kraft nach wie vor aus seinem Glauben zu schöpfen.

An Rabbiner Kantorowsky in Schanghai schrieb er damals eher dankbar als verbittert: „Obwohl ich oft zurückdenke an vergangene Zeiten […] mitten zwischen bewährten Freundschaften, gehen doch immer die Gedanken zu dem Mittelpunkt, wo wir Gotteslehre erhielten durch Sie, verehrter Rabbiner & Lehrer.“

Am 3. August 1957 starb Heinrich Ross in Chicago an den Folgen eines Schlaganfalls und wurde auf dem Grabfeld der Chewra Kaddisha (Beerdigungsbruderschaft) „Ezras Nicochim“ auf dem Friedhof von Oakridge in Hillside/Illinois beerdigt, auf dem alle Grabsteine aus rotem Marmor und exakt gleich groß sind. Auch im Tod blieb Heinrich Ross also bescheiden und ohne Dünkel, wie schon nach der Odyssee auf der „St. Louis“: „Sonst bin ich nur einer von den vielen Leidensgenossen.“

Seine Wahlheimat Neukölln hat Heinrich Ross nie mehr wieder gesehen.

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