piwik no script img

Neues von der KlimakatastropheGigantische Schmelze

Grönland, Antarktis und die Gletscher im Hochgebirge: Zum ersten Mal haben britische Forscher eine umfassende Bilanz zum schwindenden Eis vorgelegt.

Das Eis schmilzt: Pinguine auf einem Eisberg in der Cierva Cove in der Antarktis Foto: Blickwinkel/picture alliance

BERLIN taz | 28 Billionen Tonnen Eis – so viel ist auf der Erde zwischen den Jahren 1994 und 2017 geschmolzen, also verloren gegangen. Das geht aus der bisher umfassendsten globalen Eisbilanz hervor, die Forscher im Fachblatt The Cryosphere veröffentlicht haben. Für ihre Bilanz werteten die Wissenschaftler der University of Leeds Satellitendaten und Vor-Ort-Messreihen von mehr als 215.0000 Berggletschern, den polaren Eiskappen und dem antarktischen Schelfeis der Jahre 1994 bis 2017 aus. Selbst die Ostantarktis, die lange als stabil galt, verliert mittlerweile Eis.

Jüngste Studien schätzen, dass die jährliche Eisschmelze im Jahr 2019 allein auf Grönland rund 550 Kubikkilometer beträgt, erklärt Boris Koch, chemischer Ozeanograf am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Koch, auch Professor an der dortigen Hochschule, zeigt mit einem anschaulichen Vergleich, wie gigantisch diese Menge verlorenen Eises ist: „Wenn Sie von Hamburg nach München fahren – Luftlinie rund 600 Kilometer – und sich einen Eisblock vorstellen, der auf dieser Strecke 100 Meter breit ist, so lang wie ein Fußballfeld, dann wäre dieser Block zehn Kilometer hoch.“ So hoch, wie Flugzeuge fliegen.

Das grönländische Eis gilt als Kippelement, also als ein sich selbst verstärkender Mechanismus: Vielerorts ist der Eispanzer 3.100 Meter hoch, in den Höhenlagen ist es deutlich kühler als weiter unten. „Wenn die globale Temperatur über einen kritischen Punkt hinaus steigt, beginnen die obersten Schichten zu schmelzen“, erläutert Koch.

Die Oberkante sinkt dann in immer wärmere Luftschichten, was das Tauen beschleunigt. Wo genau die kritische Temperatur liegt, ist noch nicht exakt bestimmt. Einige Untersuchungen beziffern den Kipppunkt bei einer global gestiegenen Temperatur von 1,6 Grad. Ergebnisse von Forschern um Michael Bevis von der Ohio State University sehen das Grönlandeis dagegen jetzt schon unmittelbar vor dem Kippen.

Weggeschmolzen

600 Kubikkilometer Eisverlust binnen einem Jahr: Wie enorm diese Menge ist, belegt ein Forscherteam der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Sie untersuchten 4.000 Gletscher in den Alpen. Im Jahr 2017 summierten sich die Eismassen auf ein Volumen von rund 100 Kubikkilometern – ein Sechstel von dem, was allein 2019 auf Grönland wegschmolz.

Läuft es weiter wie bisher, sind die Alpen im Jahr 2100 gletscherfrei

Natürlich bleiben auch die Gebirgsgletscher nicht vom großen Schmelzen verschont. Weil sie mit Verzögerungen auf die Klimaveränderungen reagieren, steht bereits heute fest, dass die Alpengletscher bis 2050 rund die Hälfte ihres Volumens einbüßen werden. „Nach 2050 wird ihre weitere Entwicklung stark davon abhängen, wie sich das Klima verändert“, sagt Harry Zekollari, Professor für Glaziologie an der ETH. Glaziologie ist die Wissenschaft von Eis und Schnee.

Würde die Welt jetzt starken Klimaschutz betreiben, blieben Ende des Jahrhunderts immerhin noch 37 Kubikkilometer Gletschereis übrig. Läuft aber alles so weiter wie bisher, ist im Jahr 2100 praktisch kein Gletscher in den Alpen mehr übrig. Anden, Rocky Mountains, Altai, Pamir oder Himalaja – zuletzt gingen in den Hochgebirgen jährlich rund 335 Gigatonnen Eis verloren.

3,6 Milliarden A-Bomben

Dazu kommen die Verluste in der Antarktis. „Der wesentliche Unterschied zum Schmelzen auf Grönland ist der Rückgang von Schelfeis“, sagt der Glaziologe Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut. Das Schelfeis schwimmt auf dem Meer und schützt so die Gletscher der Antarktis. In Grönland gibt es diesen Schutz nicht. „In der Antarktis sind nicht die Lufttemperaturen Ursprung des Schmelzens, sondern die Wassertemperaturen“, erklärt Sasgen. Der Ozean hat große Teile jener Energie aufgenommen, die der menschengemachte Treibhauseffekt auf der Erde hält. Nach Berechnungen des Atmosphärenphysikers Lijing Cheng nahmen die Weltmeere in den vergangenen 25 Jahren die unvorstellbare Menge von 228 Zettajoule auf – die Energie von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben. Das entspricht etwa vier Hiroshima-Bomben pro Sekunde.

In der Westantarktis haben Winde vergleichsweise warmes Tiefenwasser an den Eisrand gebracht. „Das wärmere Wasser setzt dem Schelfeis zu“, erläutert Sasgen. Wird dieser Schelfeisgürtel zerstört, fehlen Rückhaltekräfte. Das Eis der antarktischen Inlandsgletscher fließt immer schneller nach, und die Gletscher ziehen sich zurück.

Der Prozess hat in der Westantarktis bereits begonnen, auch dies sei ein Kippelement, sagt der Glaziologe. „Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der Masseverlust nicht mehr stoppen“, so Sasgen. Was auf der Antarktis oder in den Bergen verschwindet, schwappt irgendwann auch an unsere Küsten. Polarforscher Koch: „Taut allein der grönländische Eispanzer komplett ab, steigt dadurch der Meeresspiegel um sieben Meter.“

Dramatisch ist, dass das Schmelzen immer schneller wird: Gegenüber den 1990er Jahren – das zeigt die nun vorgelegte Eisbilanz der Forscher aus Leeds – hat sich der jährliche Eisverlust um 57 Prozent erhöht. Dabei geht das meiste Eis durch Tauen in der wärmeren Atmosphäre zurück. Aber bereits 32 Prozent des Eisverlustes werden durch ein Abschmelzen von unten verursacht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Was hätten wir den tun sollen? Oder können? Wir mussten ja, sonst hätten wir doch...



    Also ich hab ja immer Bio gekauft. Und wir sind doch so wenig Auto gefahren. Und die Ölheizung...naja, weisst Du was eine neue Heizung kostet?? Die war doch erst 20 Jahre alt!



    Und glaubst Du, wir allein hätten was ändern können...die anderen hätten doch gelacht über uns. Wir hatten einfach nicht das Geld und es haben sich doch auch alle widersprochen, so klar war das doch alles gar nicht...

    Und jetzt sei still und bohr weiter, wir brauchen schliesslich Wasser.

  • die politik hat versagt und wird weiter versagen.daran kann und wird sich auch nichts aendern solange sie eine gefangene der maerkte ist ,und von privatem kapital erpresst werden kann .erst wenn die neoliberale ideologie entsorgt ,der freihandel beendet,und die freie bewegung von kapital über staatsgrenzen hinweg verunmöglicht worden ist -wird die politik wieder handlungsfähig sein.und solange sie weiterhin gelähmt ist weil sie der souveränität entbehrt wird sich die situation auf unserem planeten unaufhaltsam immer weiter verschlimmern

    die grundbedingung für die sicherung der zukunft ist die beendigung der kapitalherrschaft

  • "Kindchen, wir haben's nicht gewusst" werden wir unseren Enkel*innen erzählen.

    • @tomás zerolo:

      Ja so wird es kommen, aber die Enkel*innen werden mit uns nicht so gnädig sein wie die 68er mit ihren Eltern und Großeltern.

      Wir haben noch die Wahl zwischen 'Change by design' und 'Change by disaster' aber ersteres erfordert eine freiwillige WIllensentscheidung zu materiellem Verzicht und zu dem sind verantwortlichen gesellschaftlichen Gruppen in den relevanten Staaten nicht bereit, dann doch lieber 'Party bis zum bitteren Ende' und 'Nach uns die Sintflut'.

  • Kleiner Hinweis an den Autor: und das Thema etwas griffiger zu machen, sagen Sie doch, wieviel Meeresanstieg die Gletscherverluste bedeuten würden und was das für die Küstenbewohner (imerhin ca. die Hälfte der Weltbevölkerung) bedeuten würde.



    Und dann zeigen Sie auf, wie groß die betroffenen Küstenbereiche sind, wenn ganz Grönland abtaut...



    Der aktuelle Flüchtlings-"Ansturm" wäre in Beziehung dazu ein laues Lüftchen!

  • Und bitte beachten: selbst wenn wir heute aufhören jegliches CO2 zu emittieren, wäre eine mögliche positive Auswirkung frühestens in 30-40 Jahren messbar!

    Leider muss man sagen: Die Politik hat total versagt. 1990, spätestens 2000 hätte man dieses Problem konsequent angehen müssen!