Neues Oppositionsbündnis in Türkei: Gemeinsam gegen Erdoğan
Die türkischen Oppositionsparteien verbünden sich. Ihr Ziel: in den kommenden Wahlen mit einem gemeinsamen Kandidaten Erdogan schlagen.
Die Wirtschaftspolitik, lange die Paradedisziplin Erdoğans, ist längst zu seiner Achillesferse geworden. Die großen Wachstumsraten sind bereits seit 2013 vorbei und die darauf folgende Stagnation hat sich mittlerweile in eine massive Krise verwandelt, aus der der autokratisch regierende Präsident keinen Ausweg mehr findet.
Gleichzeitig ist die Opposition erstmals dabei, sich zu einer echten Alternative zu formieren. Unter Führung von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, schmiedet die Opposition ein Sechs-Parteien-Bündnis, mit dem sie geschlossen gegen Erdoğan antreten will.
Dazu gehören neben der CHP die rechte İyi-Partei (Gute Partei), die islamische Saadet-Partei und die früher führende konservative Demokratische Partei, DP, sowie die beiden Abspaltungen von der AKP, die DEVA des früheren AKP Finanz-und Wirtschaftsministers Ali Babacan und die Zukunftspartei des von Erdoğan geschassten Ex-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu.
„Eine prinzipielle Einigung auf die Eckpunkte des Bündnisses steht“, bestätigte Koray Aydin, ein führender Vertreter der İyi-Partei, dieser Tage. Ebenfalls vor wenigen Tagen machte Parteichefin Meral Akşener klar, dass das Oppositionsbündnis einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufstellen will für die Wahl, die für Sommer 2023 angesetzt ist.
Vorbild Kommunalwahlen
Von der Seitenlinie hat auch die kurdisch-linke HDP dem Bündnis Unterstützung signalisiert. Vorbild sind die Kommunalwahlen im Frühjahr 2019, bei denen es dem Bündnis von CHP und İyi-Partei ebenfalls mit indirekter Unterstützung der HDP gelungen war, die AKP in den drei wichtigsten türkischen Städten Istanbul, Ankara und Izmir zu besiegen.
Der strategische Kopf dieses Bündnisses ist der lange belächelte CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu ist kein charismatischer Politiker und auch kein guter Redner, jahrelang sah es so aus, als könne er Erdoğan nicht das Wasser reichen. Doch er versteht es geschickt, hinter den Kulissen die Fäden zu ziehen, auch weil er sich als Person zurücknehmen kann.
Zu Akşener hat er seit den Kommunalwahlen ein belastbares Vertrauensverhältnis aufgebaut, das Erdoğan trotz mehrerer Versuche, die İyi-Partei-Vorsitzende auf seine Seite zu ziehen, bislang nicht zerstören konnte. Die politische Basis dieses Bündnisses ist die Ablehnung des von Erdoğan durchgesetzten Präsidialsystems und die Rückkehr zum parlamentarischen System.
Deniz Zeyrek, Kolumnist der größten Oppositionszeitung Sözcü, der gute Kontakte zu Kılıçdaroğlu hat, schrieb kürzlich: „Die sechs Oppositionsparteien sind sehr klar, was die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems angeht. Die dafür notwendige Verfassungsänderung und die einzelnen Stationen des Übergangs sollen klar definiert werden.“
Werden die Wahlen vorgezogen?
Wer der gemeinsame Präsidentschaftskandidat wird, ist noch offen. Klar ist jedoch, dass es keine oder keiner der Vorsitzenden der Oppositionsparteien sein wird. Stattdessen wird immer wieder über die beiden populären neuen Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş spekuliert. Beide liegen in Umfragen deutlich vor Erdoğan, obwohl sie offiziell keine Kandidaten sind.
Auch das Bündnis von CHP und İyi-Partei liegt in den meisten Umfragen deutlich vor der Regierungskoalition aus AKP und der rechtsradikalen MHP. Zwar sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen offiziell erst 2023 stattfinden, doch spekulieren in Ankara etliche auf vorgezogene Wahlen.
Präsident Erdoğan werde die Abstimmungen vorziehen, bevor die türkische Wirtschaft völlig zusammenbricht und eine Schuldenkrise wie in Griechenland 2009 entsteht, glaubt Cumhuriyet-Autor Ergin Yıldızoğlu. Der Türkei stehe ökonomisch „ein perfekter Sturm“ bevor. Kommt es zu vorgezogenen Wahlen, ist die Opposition in der Türkei jedenfalls bereit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung