Neues Kunstbuch „Sudan Retold“: Die Freiheit knapp verpasst

Im Buch „Sudan Retold“ zeichnen 30 Künstler*innen ein neues Bild der sudanesischen Geschichte. Die Werke sind Vorboten des politischen Wandels.

Frau mit riesigen schwarzen aufgetürmten Haaren hinter eine gelben Wüstenstadt

Berenice aus dem Kapitel „The Golden Kingdom“ Kunst: „Sudan Retold“, Hirnkost Verlag

Bilder aus dem Sudan gingen dieses Jahr um die Welt – von protestierenden Menschenmassen, die dem Militär trotzten, und starken Frauen, die zu Ikonen der Revolution wurden. Aber was wissen Menschen in anderen Ländern sonst so über den Sudan?

Gar nichts, glaubt Khaled Al-Baih. Der sudanesische Künstler und Comiczeichner zog schon früh mit seiner Familie aus dem Sudan nach Doha. Er wuchs mit Menschen aus aller Welt auf und unterhielt sich dabei viel über deren Länder und Kulturen. „Wenn die Sprache auf den Sudan kam, konnte sich niemand etwas darunter vorstellen“, so Al-Baih.

Und was ihn noch mehr störte: „Das Wissen der Sudanes*innen über ihr eigenes Land ist genauso gering.“ Er selbst habe nicht genug über den Sudan gewusst, um ein geistiges Bild des Landes hervorzurufen, geschweige denn eines für andere zu zeichnen.

Vergangenheit und Zukunft des Sudan

Um diese Lücke zu füllen, beschloss Al-Baih ursprünglich, eine Graphic Novel über die Geschichte des Sudan zu schreiben. Wenige Jahre später ist nun stattdessen der Sammelband „Sudan Retold. Ein Kunstbuch über die Vergangenheit und Zukunft des Sudan“ entstanden. Das Buch ist in Kooperation mit dem Goethe-Institut Sudan im Hirnkost Verlag erschienen.

Larissa-Diana Fuhrmann, Khalid Albaih:„Sudan Retold“. Hirnkost Verlag 2019, 248 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 32 Euro

Darin schlagen mehr als 30 Künstlerinnen und Künstler, die aus den unterschiedlichsten Kunstformen herstammen, bislang kaum bekannte Kapitel der sudanesischen Geschichte auf. Neben Comiczeichner*innen sind Grafikdesigner*innen, Filme­ma­cher*innen, Musiker*innen, Illus­trator*innen und sogar ein Koch vertreten. QR-Codes führen Leser*innen auf die Website des Projekts, wo sie Musikstücke hören können.

„Sudanes_innen sind sehr stolze Menschen“, schreibt Al-Baih in der Einleitung. „Der Mangel an Wissen über und an Wertschätzung für einen pluralistischen Sudan war jedoch das Ergebnis leider erfolgreicher Bemühungen der politischen Arabisierung und Islamisierung des Sudan seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956.“ Al-Baihs Idee war daher, die Erinnerungen von Künstler*innen anzuzapfen und mit ihrer Hilfe eine vielseitigere Version der Geschichte zu erzählen.

Es gab noch keine freie Kunstszene

Es könnte wohl keinen besseren Moment geben, um die Geschichte des Sudan und seine Zukunft neu zu definieren. Nichts anderes haben die De­monstrant*innen auf den Straßen der sudanesischen Städte getan, bis ihre Forderungen Gehör fanden. Doch es ist auch ein wenig bedauerlich, dass die Arbeit am Buch schon im Januar 2017 begann, bevor sich eine unzensierte, freie Kunstszene entwickeln konnte. Damals war noch nicht absehbar, dass knapp zwei Jahre später eine Protestbewegung beginnen sollte, die den Diktator Omar al-Bashir nach 30 Jahren aus seinem Amt stürzen sollte.

„Würde das Buch anders aussehen, wenn wir heute anfingen daran zu arbeiten? Absolut“, sagt Al-Baih. „Bislang mieden Künstlerinnen und Künstler politische Themen aus Angst vor Repressalien.“ Durch diese Selbstzensur hätten sie jeden Bezug zur Gesellschaft verloren. Al-Baih und seine Co-Herausgeberin Larissa Fuhrmann wollten auf gesellschaftliche Relevanz nicht verzichten, doch vor allem war ihnen wichtig, das Buch im Sudan veröffentlichen zu können: „Dafür mussten wir uns an die Regeln des Staates halten.“ Zwei Kunstwerke seien aus diesem Grund ganz gestrichen worden.

Jetzt hingegen erlebt die Kunstszene eine Wiedergeburt. „Die Menschen wollen nicht länger schweigen“, sagt Comic­zeichner Yousuf Elameen El­khair, der mit zwei Kapiteln im Sammelband vertreten ist. „Sie wollen fotografieren, dichten, malen – irgendwie gegen das Regime laut werden. Plötzlich ist es möglich, sich kritisch zu äußern, und alle spüren den Drang, kreativ zu werden.“

Zweiter Band geplant

Diese neue Freiheit hat „Sudan Retold“ verpasst. Doch ihr würde Al-Baih gerne einen zweiten Band widmen. Darin, so der Herausgeber, möchte er sich zudem um eine größere geografische Diversität bemühen. Die meisten der Arbeiten in „Sudan Retold“ stammen von Künstler*innen, die in der Hauptstadt Khartoum oder im Ausland leben.

Die 27 Kapitel des Buchs lassen sich grob in vier Themenschwerpunkte aufteilen. Der erste Abschnitt liefert einen Überblick über die frühe Geschichte des Landes, die Kolonialzeit und die Trennung in Sudan und Südsudan 2011. Die Künstlerin Dar Al Naim Mubarak erinnert zum Beispiel an die Ära des Christentums im Sudan. In ihren Zeichnungen lässt sie die ehemalige christliche Hauptstadt Faras wiederauferstehen, die in den 1960ern beim Bau des Suez-Kanals geflutet wurde.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Vielseitigkeit der sudanesischen Identität. Mehr als 500 Sprachen gibt es im Land, darauf weist der Künstler Alaa Satir in einem Comic hin. Im dritten Abschnitt des Buches liegt der Schwerpunkt auf Frauen und deren Rolle in der sudanesischen Gesellschaft. Starke Frauen und Stolz auf kulturelle Traditionen bestimmen diese Darstellungen.

Toleranz, Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit

Im letzten Abschnitt geht es um die sufische Strömung im Islam. „Es ist nicht zuletzt dem Sufismus zu verdanken, dass Toleranz, Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit ein Teil des sudanesischen Charakters sind“, schreibt Ahmed Ibrahim Ab­ushouk im Vorwort.

Das Buch enthält wenig Text – immer dreisprachig: arabisch, deutsch, englisch –, sodass die dargestellten Themen nur oberflächlich erklärt werden. Ohne Vorwissen lernt man erst einmal nicht so viel. Doch die Bilder vermitteln ein Gefühl für die sudanesische Geschichte, machen Lust darauf. Sie regen dazu an, selbst weiter zu recherchieren. Und sie sind Vorboten der progressiven und relevanten Kunst, die in einem freieren Sudan entstehen könnte. Denn trotz der repressiven Atmosphäre, in der „Sudan Retold“ entstand, und trotz der Selbstzensur ist das Buch im Kern subversiv.

Eine andere Version der Geschichte zu erzählen, als in den Schulbüchern steht, eine andere Identität zu beschreiben, als der Staat propagiert, ist eine subtile Form des Protests. „Sudan Retold“ ist ein Buch, das einen Wendepunkt markiert: entstanden in Zeiten von Angst und Zensur, veröffentlicht zu Beginn einer freieren Ära. Gewidmet ist es all jenen, „die wir auf dem Weg verloren haben, und denen, die weiterhin dafür kämpfen, dass wir nie wieder in Angst leben müssen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.