Neues Buch von Haruki Murakami: Gefährliche Blicke
Murakami bleibt ein großer Zauberer seiner Zeit. Doch der Roman „Die Ermordung des Commendatore“ birgt auch eine neue Seite des Autors.
Eigentlich wollte ich nie wieder einen Text über Haruki Murakami schreiben. Ich hielt das für abgeschlossen. Für so vorbei wie Hermann Hesse oder Erich Fried, die man nach der Pubertät ja auch kaum mehr schafft anzurühren.
Aber dann plötzlich Haruki Murakamis neuer Roman, sein dreizehnter in knapp 40 Jahren, „Die Ermordung des Commendatore“. Zwei Bände, wie üblich in den Bestsellerlisten. Nicht, dass Murakami in diesem Roman seinen literarischen Kosmos neu erfinden würde. Im Grunde taucht sehr Vieles wieder auf, das man von ihm kennt. Trotzdem habe ich es mir mit diesem Roman anders überlegt. Ich möchte noch einmal sagen, dass Murakami wieder ein Stück weitergekommen ist. Warum er einer der größten Zauberer seiner Zeit bleibt.
Angefangen habe ich mit Murakami im Jahr 1999. Ich steckte in meiner Magisterarbeit über einen komplizierten, zeitgenössischen deutschen Autor fest. Also ging ich in Klausur und arbeitete nach Stundenplan wie Thomas Mann. Um acht Uhr aufstehen, Kaffee, um halb zehn an den Schreibtisch. Danach schmökern. Gerade war Murakamis Trilogie „Mister Aufziehvogel“ erschienen. Die Lektüre erinnerte mich daran, warum ich überhaupt Literatur studiert habe: dass man mit Büchern nicht nur arbeiten muss. Dass man sich auch von ihnen wegreißen lassen darf. Mir gefiel das: das Uferlose seiner romantischen Weltfluchten, die trockenen Beschreibungen des Alltags als Gegenpol.
Danach las ich nach und nach alles von Murakami, verfolgte interessiert, wie sich eine Talkshow über die schlechte Übersetzung einer seiner Romane zerstritt, besuchte für diese Zeitung Murakamis neue Übersetzerin in Frankfurt und später auch eine seiner seltenen Lesungen in Berlin. Jeden Herbst dachte ich, Murakami könnte den Nobelpreis gewinnen. Tja, und jetzt? Jetzt geht Murakami auf die Siebzig zu, und ich auf die Fünfzig. Ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit sei, direkter zur Sache zu kommen.
Eine Irrfahrt durch Japan
Worum es in „Die Ermordung des Commendatore“ geht, ist schnell erzählt. Ein namenloser Ich-Erzähler wird von seiner Frau verlassen, begibt sich auf eine Irrfahrt durch Japan und landet schließlich in einem kleinen Holzhaus in den Bergen, wo einst der Vater eines Freundes lebte, ein berühmter Maler traditioneller japanischer Bilder, der nun an Demenz erkrankt ist und in einem Seniorenheim gepflegt wird.
Auch der Erzähler ist von Beruf Maler, Auftragsmaler von realistischen Porträts wohlhabender Menschen, die meinen, sie müssten ein solches Porträt besitzen. Doch im Augenblick hat er keine Lust auf Arbeit, er muss mit dem Verlust seiner Frau klarkommen und damit auch mit dem Verlust seiner Schwester, der zwangsläufig wieder in ihm hochkommt: Seine Schwester Komi starb mit 12 Jahren an einem angeborenen Herzleiden. Der Erzähler war damals 15, am Tod Komis zerbrach die Beziehung zu seinen Eltern, und er entwickelte eine extreme Klaustrophobie.
Diese Ausgangslage ist allen bekannt, die auch nur die Zusammenfassung eines Romans von Murakami gelesen haben: mittelalter Mann ohne besondere Eigenschaften und Existenznöte, ein wenig zu gebildet, zu gesund und zu aufgeräumt, gerät in fundamentale Krise und damit an den Rand der leistungsorientierten japanischen Gesellschaft, wo die Rädchen unerträglich reibungslos schnurren. „Die Zeit schreitet voran, während du wie Urashima im Drachenpalast auf dem Meeresgrund mit den Seebrassen dein Mittagsschläfchen hältst“, beschreibt einmal ein Freund sehr witzig seinen Rückzug, mit dem man sich in Zeiten fortschreitender Digitalisierung auch als westlicher Leser so rückhaltlos identifizieren kann.
Auch das, was in der Krise geschieht, kennt man von Murakami: Selbiger Mann hat Probleme, den Schmerz zu fühlen, den er fühlen sollte. Also reist er ins Innere und verliert darüber die Gewissheit, was wirklich ist und was Traum. Zu seinen neuen Erfahrungen gehören kleine Fabelwesen, die an die „little people“ in IQ84 erinnern, dem letzten großen Roman Murakamis aus dem Jahr 2010. Dazu gehören auch vererbte Schrecken, wie die aus dem Zweiten Weltkrieg, die in fast allen Büchern Murakamis hochspülen. Ein tiefes Loch im Waldboden hinterm Haus, eine Steinkammer, die „lebt und sich bewegt“, zitiert den Brunnen in „Mister Aufziehvogel“. „Nichts ist sicher“, weiß der Erzähler wie der Leser, und so hält man sich gemeinsam an banalen Verrichtungen wie der Zubereitung einfacher Mahlzeiten fest wie in jedem anderen Roman Murakamis auch.
Die Macht des Voyeurismus
Und doch gibt es eine Komponente an diesem Roman, die neu ist, nach der man zuerst sogar ein bisschen buddeln muss, um sie zu entdecken, so leise und bescheiden kommt sie daher – Murakamis lakonischer Stil, aus dem man so schlecht zitieren kann, weil er nur auf niedriger Frequenz und über längere, langsame Lektüre hinweg klingt, ist oft genug gerühmt worden. Diese Komponente erschließt sich über die rätselhafte Freundschaft zwischen dem Erzähler und der 13-jährigen Marie – auch diese ungleiche Art von Freundschaft gab es schon mal bei ihm.
Allerdings ist Marie nicht nur die vielleicht faszinierendste 13-Jährige der Weltliteratur, blass und zerbrechlich, stark wie ein Stier und nicht willens, sich auch nur der kleinsten gesellschaftlichen Konvention zu unterwerfen. Marie hat außerdem eine Schlüsselfunktion in diesem Roman, denn sie ist die mutmaßliche Tochter des neuen Nachbarn Wataru Menshiki. Dieser dringt sehr selbstbewusst in das Leben des Erzählers ein. Später stellt sich heraus, dass Menshiki auch Marie bedrängt, indem er sie täglich mit einem Fernrohr beobachtet – er ist sogar eigens in ein Haus gezogen, von dem man aus den besten Blick auf Maries Haus hat.
Haruki Murakami: „Die Ermordung des Commendatore“. Aus d. Japanischen v. Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2018, 2 Bände, 480 bzw. 496 S., je 26 Euro
Die Macht des Sehens, der Voyeurismus: Das ist das Leitmotiv, zu dem die Freundschaft zwischen Marie und dem Ich-Erzähler führt, das bislang so bei Murakami noch nicht aufgetaucht ist. Darum muss der Ich-Erzähler auch ein Maler sein, denn durch seine Krise arbeitet er sich zu einer neuen Form der Malerei vor. Anstatt weiter realistisch zu malen, malt er nun abstrakt und versucht statt der äußeren Hülle eher den Kern der Person auszudrücken.
Das gelingt ihm mehr oder weniger dreimal: einmal bei dem übergriffigen Menshiki, einmal bei Marie, einmal bei einem Mann, der ihm auf seiner Irrfahrt durch Japan begegnet ist, als der Erzähler mit einer Unbekannten eine bizarre Nacht im Love Hotel verbracht hat.
Das Porträt schaut zurück
Nun guckt der Mann auf dem Porträt so stechend aus dem Bild, dass selbst sein Schöpfer, der Erzähler, sich vor ihm fürchtet. Man kennt diesen schrecklichen Moment aus Hitchcock-Filmen, aus besseren Horrorfilmen auch: Wenn man schlagartig merkt, dass der, den man heimlich beobachtet, zurückschaut. Es ist genau dieser Augenblick, an dem sich Murakami auf ganzen 975 Seiten abarbeitet, mit allen teilweise auch altbekannten Mitteln, die ihm dafür zur Verfügung stehen.
Ich glaube, diese ernste Geschlossenheit, diese Konzentration auf diese Komponente, die sich nur vorsichtig kreisend zum so brisanten wie aktuellen Thema des Buches auswächst, ist es, die mir am neuen Murakami so gut gefällt: Ihr wird im Grunde sogar die Unterwelt geopfert, die bei Murakami sonst ganz schön ins Kraut schießen kann. Es arbeitet noch lang nach abgeschlossener Lektüre weiter: Wer ist gefährlicher, wer mächtiger? Der Sehende oder der Gesehene, der den Blick erwidert?
Der wirklich beklemmende, blinde Fleck ist Menshiki – oder eher Maries Versuch, bei ihm den Spieß umzudrehen? Sie will nicht mehr die Beobachtete sein, das Objekt. So gerät sie in eine gefährliche Situation, aus der sie am Ende des zweiten Bandes dieses großartigen Romans nur der Erzähler befreien kann.
Und dafür muss sogar jemand – oder „Etwas“, wie es bei Murakami genau in diesem Schriftbild heißt, ermordet werden.
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