Neues Buch von Dietmar Dath: In Ecken und Winkel lugen
Mathematik, Menschen und Maschinen: Ihr Verhältnis verhandelt Dietmar Dath in seinem Buch „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“. Aber nicht nur das.
Es gibt einen schön versponnenen Seitenpfad in diesem Roman, da trifft der Mathematiker Gerhard Gentzen auf Lady Gaga. Sie besuchen zusammen ein Konzert, Gentzen nippt an einer Whisky-Cola, staunt über die langen Wimpern der Pop-Diva, sie führen eine längliche Diskussion. „Ad absurdum“ nennt Autor Dietmar Dath dieses Kapitel, und absurd ist es vielleicht, den Logiker Gentzen, der von 1909 bis 1945 gelebt hat und Mitbegründer der modernen mathematischen Beweistheorie war, mit Lady Gaga zusammenzubringen. Absurd ist aber nicht der Versuch der beiden, einander zu verstehen: Während er versucht zu definieren, was ein „Konzert“ ist, will sie wissen, wie viele Primzahlen es gibt.
„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ heißt Dietmar Daths neuestes Buch, laut Eigenbezeichnung ein „Kalkülroman“. Die Gentzen-Gaga-Passage illustriert, wie breit die Handlung thematisch und chronologisch gestreut ist. Sie illustriert auch, dass es um die Faszination für Mathematik geht, darum zu zeigen, wie sie die programmierte Welt der Gegenwart dominiert.
Als Leser:in findet man sich in einem Neben- und Durcheinander vieler unterschiedlicher Zeit- und Handlungsebenen wieder. Die erzählte Zeit reicht von 1728, als David Hume grundlegende Erkenntnisse für die Aufklärung gewinnt, bis ins Jahr 2130, in dem posthumane Wesen und Apparate über das Scheitern der Vernunft sprechen. Überwiegend ist das Geschehen indes in der jüngeren Gegenwart angesiedelt, reale Personen – Frank Schirrmacher, Clemens J. Setz, Dietmar Dath, Jeff Bezos, um einige zu nennen – tauchen genauso auf wie fiktive Charaktere.
Dietmar Dath: „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“, Kalkülroman, Verlag Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2021, 608 Seiten, 26 Euro
Auch mit den Erzählperspektiven spielt der Autor – Dath erscheint mal in der dritten Person, mal als Ich-Erzähler, der mit dem Autor des Buchs wiederum viel gemein hat. Einige Kapitel spielen in der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dath, ehemals Spex-Chefredakteur und Autor zahlreicher Science-Fiction- und Wissenschaftsromane, ist dort bis heute Feuilletonredakteur, der 2014 verstorbene Frank Schirrmacher war einst sein Chef. Das Buch liest sich auch wie eine – kritische – Würdigung Schirrmachers.
Die Entstehung des Buchs schildert Dath dann wohl auch so, wie es wirklich war: Von der Geschichte Gentzens erfährt er auf einer Karlsruher Tagung zur Arbeit des Mathematikers Kurt Gödel im Jahr 2002. Die von Gentzen erarbeitete Beweistheorie weist voraus auf das maschinengestützte Beweisen des Computerzeitalters.
Ein naiver NS-Mitläufer
In politischer Hinsicht war der Mathematiker ein naiver NS-Mitläufer, er arrangierte sich mit den Nazis, trat sogar auf Anraten in die SA ein, wohl vor allem, um ungestört weiterarbeiten zu können. Schließlich wurde er nach der Befreiung Prags, wo er zuletzt arbeitete, inhaftiert und starb dort im August 1945 an Unterernährung im Gefängnis.
Doch ist dieses Buch eben kein historischer Roman geworden, der Erzähler sagt auch, über Gentzen sei „gar kein Erzähltext möglich“. Eher ist ein montageartiger Gegenwartsroman entstanden, Dath streift viele politische Diskurse: Corona, Flucht, Wohnungsbaupolitik, Rassismustheorie, die Krisen des Liberalismus, der Vernunft, vor allem aber die Krise des Digitalen.
Die Digitalisierung, so der Befund, ist in ein finsteres monopolkapitalistisches Zeitalter gemündet, und dort, wo eine digitale Ethik sein sollte, befindet sich eine Leerstelle. Gleich zu Beginn des Buchs fragt sich der Erzähler ob des Potenzials der Algorithmen: „Sind es die richtigen Programme? Sind ihre von Menschen entwickelten Zweckbestimmungen korrekt? Ist das, was sie tun sollen, das Gute? Man kann’s nur hoffen.“
Alles auf Twitter klingt nach Twitter
Die Frage, ob die Maschinen „das gut tun, was sie tun sollen“, sei viel leichter zu klären als die Frage, „ob das, was sie tun sollen, gut ist“. Genauso stellt sich die Frage, ob der Mensch die Programme macht oder ob die Programme mehr und mehr den Menschen machen. Der Erzähler hat da schon zu Beginn so eine Ahnung: „Alle auf Twitter sind originell bis zum Umkippen, aber jede und jeder dort klingen mehr nach Twitter als nach irgendeinem Subjekt.“
Daneben werden seitenweise marxistische und linke Diskurse referiert und reflektiert, meines Erachtens sind die politischen Debatten der Figuren die am wenigsten überzeugenden Passagen. Das aber eher als Randnotiz. Dieses bereits im Herbst 2021 erschienene Buch ist ein Kuriosum („kurios“ in all seinen Bedeutungen), das in sehr viele verschieden Ecken und Winkel der Geschichte und Gegenwart lugt. Es ist erfreulich, dass es nun noch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde – wer weiß, vielleicht macht ja tatsächlich am Ende dieser Außenseiter das Rennen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“