Neues Buch „Überfluss und Freiheit“: Zerstörungskraft männlichen Denkens
Wie konnte es zu Klimakatastrophe und Artensterben kommen? Pierre Charbonnier untersucht in seinem Buch die europäische Ideengeschichte.
![Das Foto zeigt einen Mann im Anzug, der das Ankommen von Baumstämmen in einem kleinen Hafen am Kongo beobachtet Das Foto zeigt einen Mann im Anzug, der das Ankommen von Baumstämmen in einem kleinen Hafen am Kongo beobachtet](https://taz.de/picture/5883021/14/buch-artensterben-ideologie--1.jpeg)
Der französische Philosoph Pierre Charbonnier will die Geschichte neu schreiben. Das kündigt er in der Einleitung seines 500-Seiten-Werks „Überfluss und Freiheit“ etwas großspurig an. Aus der Ideengeschichte Europas seit dem 17. Jahrhundert leitet er die Ursachen der Klimakatastrophe und des Artensterbens ab.
„Die Nichtbeachtung der ökologischen Regeln, die diese Erde bewohnbar machen, und die Entwicklung einer Lebensweise, die zu diesen Regeln im Widerspruch steht, bilden den Kern unserer politischen Geschichte.“ Markt und technische Innovationen hätten regelmäßig das Gegenteil dessen bewirkt, was ihre Verfechter behaupteten.
Der 1983 geborene Autor fordert eine komplette Neubetrachtung, was die Gesellschaft der Zukunft angeht – bleibt aber ausgerechnet hierbei sehr unkonkret.
So beschränkt sich das Buch weitgehend darauf, die Vorstellungen europäischer Männer in den vergangenen 400 Jahren nachzuzeichnen. Das reicht von Grotius, Locke, Kant, Smith, de Tocqueville über Marx bis Polanyi und Marcuse und einigen Dutzend weiteren. Dabei umkreist Charbonnier die Begriffe Autonomie, Eigentum, Demokratie und Freiheit und setzt sie in Beziehung zu Boden, Ressourcen, Produktion und Überfluss. Das ist an manchen Stellen eher fleißig als fokussiert und immer wieder gibt es auch Redundanzen. Eine Straffung hätte dem Buch an manchen Stellen durchaus gutgetan.
Wettbewerb um Territorien
Zunächst entwickelte sich im 17. Jahrhundert ein Politikverständnis, bei dem der Staat nicht länger für das Seelenheil der Bewohner*innen zuständig war. Institutionen, Recht, Wissenschaft und Politik dienten mehr und mehr dem Ziel, individuelles Eigentum und Souveränität abzusichern. Im Wettbewerb teilten die Nationen Meere und Böden jenseits des eigenen Territoriums auf – wobei indigenen Gesellschaften die Rechte der Europäer abgesprochen wurden.
Das 18. Jahrhundert ist geprägt von Fortschrittsideologie. Freiheit und wirtschaftliches Wachstum gelten als essenziell für die menschliche Entwicklung und zivilisatorische Dynamik. Boden wird als Ressource kodiert, französische Großgrundbesitzer verbinden damit Renditeerwartungen.
In England dagegen erzielen Investoren Gewinne vor allem durch den Import billiger Rohstoffe, die Ausbeutung von Arbeit und Warenhandel – und all das galt im Konzept des Liberalismus als Ausdruck individueller Leistung und tugendhafter Haltung. Der Staat überließ der Industrie alle Fragen der Versorgung und übernahm den Schutz des Eigentums durch Justiz, Polizei und Armee. Europa lebte auf Kosten des Rests der Welt und behauptete zugleich seine moralische und geistige Überlegenheit.
Die Nutzung von Kohle als Energieträger vervielfältigte die Produktion. Schon früh wies der englische Ökonom William Stanley Jevons auf deren Endlichkeit hin, doch die ideologische Basis des Liberalismus setzte sich fort. Die modernen Techniken veränderten die Gesellschaften grundlegend, Investoren und große Aktiengesellschaften wurden immer bedeutsamer, zugleich nahmen Ausbeutung und Armut zu. Der französische Philosoph und Wirtschaftstheoretiker Pierre-Joseph Proudhon schockierte die etablierte Gesellschaft mit seiner Schlussfolgerung: „Eigentum ist Diebstahl.“ Boden, Wasser, Luft und Licht könnten nur gemeinsame Sachen sein, weil jeder Mensch darauf angewiesen sei.
Marx sah das Problem
Mit dem Fortschrittsglauben brach Proudhon freilich nicht – wie andere Sozialisten wollte er den Überfluss nur vergesellschaften. Dabei sah Karl Marx durchaus, dass der „Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde“ gestört sei durch den Transport riesiger Materialmengen vom Land in die Stadt und von den Kolonien in die Industrieländer. Auch die Fruchtbarkeit der Böden hielt er für gefährdet.
Pierre Charbonnier: „Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen“. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022, 512 Seiten, 36 Euro.
Doch letztlich vernachlässigten demokratische und sozialistische Bewegungen ökologische Fragen und die Natur. Charbonnier kritisiert, dass linke Denker das Thema Land sowohl im Sinne des produktiven Bodens als auch der Identität reaktionären und später faschistischen Kräften überlassen haben.
Mit dem Öl- und Atomzeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg weiteten sich Massenproduktion und Externalisierung der ökologischen Kosten noch einmal rasant aus. „Marcuse sagt treffend: Es ist nicht so, dass die unteren Klassen aus Trägheit oder mangelnder Einsicht zur Gegenbewegung übergelaufen sind, vielmehr erkannten sie durchaus, dass sie von den Folgen des Wachstums mehr zu erwarten hatten als von der Fortsetzung des sozialen Kräftemessens“, fasst Charbonnier die Erkenntnis des Vertreters der Frankfurter Schule zusammen.
Das Projekt der Autonomie
Während der Club of Rome mit den „Grenzen des Wachstums“ noch von einer Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit der Zukunft ausging, wandten sich die Sozialwissenschaften nun immer stärker den Risiken zu. Klar wurde, dass Natur, Boden und Atmosphäre auf die menschliche Lebensweise in unvorhersehbarer Weise reagieren – und die Konstruktion der Welt seit der industriellen Revolution niemals zur „soziohistorischen Norm“ werden kann. Und nun?
Charbonnier widmet dem Thema der politischen Ökologie zwar ein Kapitel und betont, dass feministische, postkoloniale und ökologische Bewegungen zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des politischen Wissens geführt haben. Doch die meisten – männlichen – Theoretiker, die Charbonnier zitiert, arbeiten sich an den Ausbeutungsverhältnissen ab. Dagegen bleiben Subsistenzgemeinschaften und kritische Bewegungen, die das „Projekt der Autonomie neu konstruieren“ können, beim Autor summarisch und abstrakt.
Das liegt sicher auch daran, dass Charbonnier rein ideengeschichtlich arbeitet und keinen Zugang zu realen Erfahrungen hat. So kommt er zu dem Schluss: „Jenseits von seinen Fehlschlägen, vor allem im Umweltbereich, hat der Sozialismus ein Erbe hinterlassen, für das man im Gedächtnis des politischen Denkens absolut kein Äquivalent findet.“ Damit bleibt er in seiner Blase und weit zurück hinter dem, was in Commons-, Degrowth- und anderen Teilen der Transformationsbewegungen inzwischen diskutiert wird.
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