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Neues Album von „Tocotronic“Über die Dörfer fliegen

Vorwort, Kindheit, Erwachsensein, Zukunft, Nachwort: Das Autobiografische ist in „Die Unendlichkeit“ Konzept. Es ist das zwölfte Album der Band.

„Tocotronic“ ist der Inbegriff der Hamburger Schule Foto: Michael Petersohn

Mit einer Begegnung endete das bisher letzte, „rote“ Album von Toco­tronic. Dirk von Lowtzow begegnet Dirk von Lowtzow, verbringt mit seinem Alter Ego die Nacht in einer Naturkulisse voll romantischer Bilder zwischen Fruchtbarkeit und Verfall. „Sein Innerstes quillt nach außen“, heißt es da vieldeutig. Versteht man dieses Innerste als persönliche Erfahrungen, liegt es nun, ein Album später, auf dem Seziertisch. Denn das neue Tocotronic-Werk ist ein Konzeptalbum: „Es ist eine Autobiografie, meine Biografie“, stellt von Lowtzow im Gespräch klar.

Die mit überbordenden Naturmotivik durchsetzte halluzinöse Selbstbegegnung des Hidden Tracks von 2015 erfährt dabei eine 180-Grad-Wende. Der Titel des neuen Albums „Die Unendlichkeit“ führt nur scheinbar den psychedelischen Anklang von „Date mit Dirk“ weiter. Denn was nun geschieht, wird ganz konkret: „Darstellungsrealistisch“ nennt Dirk von Lowtzow die Herangehensweise auf Tocotronics Album Nummer zwölf.

Die Band, 1993 in Hamburg gegründet, ist bekannt als Liebling von Intellektuellen, Inbegriff der Hamburger Schule, erwachsen gewordener Teenager-Outbreak-Traum. In Internetforen und Disserta­tio­nen wird Neuerfindungen wie Inszenierungsstrategien dieser Band nachgegangen.

Seit ihrem Debüt „Digital ist besser“ (1995) wurden Tocotronic zu den Meistern des sloganartigen Popsongs, von „Pure Vernunft darf niemals siegen“ bis „Die Revolte ist in mir“ oder „Wie wir leben wollen“. Der Weg der Band ging vom alltäglichen Erlebnis zur analytischen Verklausulierung und Parolenhaftigkeit. Dennoch versteht die Band ihren aktuellen Ansatz nicht als „Back to the roots“-Gedanken: „Die ersten vier Alben, die wir in den 90ern gemacht haben, waren auch autobiografisch. Weil sie sehr persönlich waren und unseren Alltag in Platten gegossen haben. Da waren wir sehr mitteilungsintensiv.“

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Jugendlichem Leichtsinn sei das geschuldet gewesen, meint von Lowtzow. Nun das Autobiografische als striktes Konzept: Vorwort, Kindheit, Erwachsensein, Zukunft, Nachwort. Das funktioniere nur, weil Toco­tronic mittlerweile mehr als ihr halbes Leben zusammenspielen und der 46-jährige Protagonist der Erzählung etwas hat, auf das er zurückblicken kann.

Und so erzählt dieser von der badischen Provinz, in der er aufgewachsen ist, davon, nach Hamburg zu gehen, von durchzechten Nächten, davon, jemanden zu verlieren, gerettet zu werden, zu lieben. Der Wendepunkt heißt wie das Jahr, in dem er stattfand „1993“, das Jahr der Bandgründung und von Lowtzows Weggang aus der „Schwarzwaldhölle“. Er beginnt mit einer „Alarmsirene“, wie Jan Müller, Tocotronic-Bassist, zugibt: ein Vocoder-Effekt, der markiert, dass hier etwas Einschneidendes passiert. In den Songs davor stehen die Jugenderfahrungen im Mittelpunkt: Das Ich als Außenseiter, wie das Stück „Hey du“ mit einer der wütendsten Zeilen verdeutlicht: „Bin ich etwas, das du nicht kennst / dass du mich Schwuchtel nennst? / Ist mein Stil zu ungewohnt / für den Kleinstadthorizont?“

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„Ich war als Kind ziemlich schmächtig und unsportlich und habe sehr gelitten unter der Demonstration von Stärke und Dominanzverhalten von männlichen Mitschülern. Mit 12 oder 13 Jahren hab ich eine E-Gitarre geschenkt bekommen, und das klingt kitschig, aber sie war meine Rettung“, erklärt von Lowtzow auch den Song „Electric Guitar“. Darin nimmt das Teenager-Ich durch das Musikersein eine Identität an und findet auch körperlich zu sich: „Ich zieh mir den Pulli vor dem Spiegel aus / Teenage Riot im Reihenhaus.“ Eine Erfahrung, die nicht nur von Lowtzow kennt.

Parallel fanden Arne Zank und Jan Müller (heute Schlagzeug und Bass bei Tocotronic) ihren Ausweg in Rock ’n’ Roll oder Hardcore-Punk, Rick McPhail (heute Keyboard) im US-Ostküstenstaat Maine im Punk. Die archetypische Rockbandbesetzung aus Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard produziert bei Tocotronic längst nicht mehr bloß Rock. Wie abwechslungsreich und überraschend deutschsprachiger Indie-Rock sein kann, zeigten die Künstler mindestens seit den epischen, synthesizergesteuerten Instrumentalpassagen auf „K.O.O.K.“.

Das Album

Tocotronic: „Die Unendlichkeit“ (Vertigo/Universal)

Die Tour beginnt am 6. März.

Auf „Die Unendlichkeit“ gesellen sich zu McPhails intensiven Gitarren nun auch Farfisa- und Hammond-Orgeln, Streicherarrangements, diverse Synthesizer, Stimmverzerrung und andere Effekte. Mit Tonin­ge­nieur Moses Schneider ergründen Tocotronic weiter, wie sich Musik und Text aufeinander beziehen können, nicht illustrativ, sondern assoziativ: „Die Erzählungen rufen oft eine Musik ins Gedächtnis, die wir alle gehört haben in der Zeit, zu der der Text spielt“, sagt von Lowtzow.

Die Bandmitglieder sind in unterschiedlichen Ecken der Welt groß geworden, ihre musikalische Sozialisation ähnelt sich aber. So verstehen sie etwa die Überdrehtheit des US-Postpunk-Trios Hüsker Dü, die sich in den Tocotronic-Track „Wilder Wirbel“ geschrieben hat: „Der Song hat das Gefühl der ersten erfüllten Liebe zum Gegenstand, und wie man dadurch in einen Rausch gerät. Man denkt, dass man durch das Gefühl der Liebe aus dem Provinzalltagstrott emporgehoben werden kann. Die Vorstellung, wie in einem Wirbel über die Dörfer zu fliegen. Hüsker Düs Wirbeligkeit hat eine enorme Emotionalität“, so von Lowtzow.

Über ihr jetziges Konzept sagen Tocotronic: „Man darf sich nicht durch die Hintertür wieder raustricksen. Wenn man diesen Weg wählt, dann setzt man einen Prozess in Gang, der hat etwas Analytisches oder Therapeutisches. Man durchlebt etwas noch mal.“ Trotz des Credos zeichnen sich große Strecken von „Die Unendlichkeit“ auch dadurch aus, dass allzu Eindeutiges kunstvoll verschleiert wird. So ist nicht nur gewährleistet, dass die Band Kollektiv bleibt und von Lowtzows Erfahrung ein Stück weit für alle vier gelten können, sondern auch, dass HörerInnen sich die geschilderten Gedanken und Gefühle zu eigen machen können.

Am Ende des Albums fühlt man sich diesen Menschen, die da Ich sagen, vertrauter als zuvor

In den Songs, die die früheste Erinnerung zum Thema haben, lösen einzelne Bilder die durchgehende Erzählung ab: „In den Bäumen rauscht der Wind / Du bist noch ein Kind / In die Brückenpfeiler / saust bestimmt /ein Lied.“ Zulässig sei diese Abstraktion, meint Bassist Müller und von Lowtzow fügt hinzu: „Dass ich mich selbst mit einem ‚Du‘ anrede, erscheint mir an der Stelle logischer. So wird auch der Erwachsene deutlich, der auf das Kind blickt – der, der man jetzt ist.“ Viel Wahrheit steckt darin, interpretiert hier nicht nur der 46-jährige von Lowtzow seine Erfahrungen, sondern konstruiert seine Erinnerungen im Nachhinein zu solchen, die ihn geprägt haben. In anderen Worten: Wäre er nicht Musiker, sondern Handwerker geworden, würde er sich nicht an die erste E-Gitarre, sondern an seinen ersten Schraubendreher erinnern.

Damit erzählt dieses Album „Die Unendlichkeit“ letztendlich mehr über das „Jetzt“ des Erinnernden als über das „Gestern“. Die Vergangenheit wird so weit offengelegt, wie es für die Identitätskonstruktion ausschlaggebend ist. Somit holen Musik und Songtexte auch die Interpretationshoheit über das eigene Ich zurück, die in „Hey du“ fremdgedeutet wird. Am Ende dieses Albums fühlt man sich diesen Menschen, die da „Ich“ sagen, vertrauter als zuvor. Doch beginnt man dann, „Die Unendlichkeit“ noch einmal zu hören, findet man sich plötzlich in der allzu tocotronischen Doppelbödigkeit wieder, offenbaren sie doch bereits im Epilog: „Ich habe dich vielleicht belogen / Und zwar immer dann / wenn wir uns am nächsten waren.“

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