Neues Album von Joanna Newsom: Die heilige Joanna der Schlosshöfe
Die Ausnahmemusikerin Joanna Newsom packt ihre Harfe ein und macht sich mit ihrem neuen Album "Have One on Me" unsterblich.
Es war eine leidenschaftliche, wenngleich für alle Beteiligten unerfreulich endende Liebschaft: 1846 begegnete das Showgirl Lola Montez König Ludwig I. von Bayern. Er war der falschen Spanierin und ihrem freizügigen Spinnentanz augenblicklich verfallen. Ludwig änderte sein Testament, versetzte seine Mätresse in den Adelsstand und verlieh ihr die Staatsbürgerschaft. Es kam zu tumultartigen Zuständen in München, und Ludwig musste Montez aufgrund der angespannten Stimmung schließlich gar des Landes verweisen. Seinen Thron rettete aber auch das nicht mehr.
Im Titelstück von Joanna Newsoms neuem Album "Have One On Me" wird aus der erotischen Staatsaffäre ein ergreifender Song über das Scheitern der Liebe, in dem während 11 Minuten alles zusammenfließt, was die Sängerin und Harfinistin zur Musikerin der Stunde macht: Textlandschaften, in denen ihre motivisch geflochtenen Geschichten sich ausdehnen können, wo sich Erzählschichten übereinanderlegen und undurchdringlich werden; Melodiebögen, die über schrägen harmonischen Strukturen schweben und in filigranen Windungen schließlich wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden. Und dann ist da noch Joanna Newsoms Stimme, die spielerisch die kuriosen Kapriolen ihrer Songs nachvollzieht.
Die Stimme, hat der Psychoanalytiker Jacques Lacan einmal gesagt, wecke Begehren. An Joanna Newsoms Organ hätte der Franzose seine helle Freude gehabt. Seit sie das erste Mal vor sechs Jahren auf ihrem Debütalbum "The Milk-Eyed Mender" aus einem Märchen- und Feenland kommend mit ihrer Stimme ins kollektive Gehör schnitt, überschlagen sich die Kritiker: Newsoms kratziges Kreischen höre sich an wie das Schreien einer Katze, wenn draußen gerade ein Feuerwerk tobt, konnte man etwa lesen. Da sprach das Rock-Über-Ich, das die vermeintlich direkt aus dem Unbewussten herausgequetschten Klänge nicht gutheißen konnte. Auf einer Skala die von eins bis zehn - eins für das Singen eines Geistesgestörten, zehn der glatte Gesang von American Idols-Gewinnern - rangiere Joanna Newsom bei zweieinhalb, bemerkte der US-Schriftsteller Dave Eggers. Er wollte das als Kompliment verstanden wissen.
An Newsoms Stimme kommt man einfach nicht vorbei. Sie ist das, was einen als Erstes empfängt, abstößt oder umgarnt, wenn man sich dem musikalischen Kosmos der 28-Jährigen nähert. Sie ist die Eintrittskarte in eine Welt, in der man in labyrinthischen Geschichten verloren gehen kann, sirenenhaft angelockt von einem Versprechen naiver Unschuld und komplexer Sinnlichkeit gleichermaßen. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Joanna Newsoms Stimme transportiert Verwirrung und Gereiztheit, aber auch das Wissen um die Schönheit des Dargebotenen. Man könnte diesen Gesang mutig nennen, ja, den Versuch, an der eigenen Zerbrechlichkeit nicht zu zerbrechen und sie stattdessen selbstbewusst auszustellen. Ihren Ursprung hat die Musik tatsächlich in einer wunderbar nichtschönen Stimme, die alle Emotionalität in sich birgt, um ein Menschenherz zu rühren. Die Stimme der Joanna Newsom, auf dem neuen Album noch souveräner und immer wieder an Kate Bush erinnernd oder an Victoria Williams, weckt Begehren. Sie ist schlicht überwältigend.
"Musik wie diese", schreibt Dave Eggers, "kann in dir das Gefühl von Verletzbarkeit erzeugen. Sogar wenn du dich stark fühlst, wirst du bald unterliegen, und dann brauchst du Unterstützung, die das Album selbst bereitstellt. Es bricht dich, dann baut es dich wieder auf." Eggers Liebeserklärung an Newsoms Musik ist der Ausgangspunkt eines Buches, das der US-Literaturwissenschaftler Brad Buchanan mit verschiedensten, das Werk der Sängerin und Songschreiberin umkreisenden Aufsätzen bestückt hat: Die Bandbreite von "Visions of Joanna Newsom" - der Titel spielt auf einen Song des im Reader öfter zitierten Bob Dylan an - reicht von unbedarften Kindheitserinnerungen einer Freundin über präzise Analysen der Newsomschen Erzählweise bis zu poststrukturalistischen Lesarten nach Deleuze und Guattari.
All das soll Bewunderung zum Ausdruck bringen für ein noch schmales Oeuvre, das in seiner ganzen Wundersamkeit und Fülle nur annäherungsweise erfasst werden kann, weil es sich wie Newsoms verworrene Melodielinien immer wieder entzieht. Als Buchanan das Buch zusammenstellte, war gerade "Ys" erschienen, ihr zweites, versponnenes Album, das durch die Van Dyke Parkschen Orchesterarrangements zu einem Meisterwerk des sogenannten Weird Folk wurde.
Newsoms neuester Streich und ohne Zweifel das bisherige Opus magnum der Prinzessin an der Harfe aber war da noch gar nicht in Sicht. Wie ein Anachronismus erscheint die Triple LP "Have One On Me" in der Ära des Downloads: 18 Songs, über zwei Stunden Spieldauer, kaum ein Lied im radiokompatiblen Single-Format, dafür viele ausschweifende und wild mäandernde Kompositionen.
Die Harfe wird manchmal gegen den Flügel eingetauscht, die Arrangements von Mitmusiker Ryan Francesconi sind weniger opulent als noch auf dem Vorgängeralbum. Und doch verwandeln sich die oft folkartig beginnenden Songs zuweilen in pointiert instrumentierte Kunstlieder. Was die amerikanische Musik (und nicht nur die) in den letzten zweihundert Jahren hervorgebracht hat, scheint hier eingesickert, und Newsoms Faible für westafrikanische, gegenläufige Rhythmusmuster schafft immer wieder angenehme Zustände der Desorientierung: Man ist ganz hineingezogen in die Songs, die doch fremd und seltsam bleiben.
Wenn die letzten verklingenden Töne und die Abschiedszeilen die Zuhörer wieder in die Wirklichkeit entlassen, waren sie in einer Welt gewesen, die selbst dem Profansten noch romantischen Zauber verleiht. Die Worte, mögen sie noch so vertraut klingen, entstammen nicht dem Jetzt; und die Musik, in der kaleidoskopartig Minnesang, Romantik, Folk, Jazz, Vaudeville, Gospel, Blues und Kunstmusik aufscheinen, hat mit den Pattern der Popmusik, wie wir sie kennen, nur wenig gemein. Das Mittelalter, aus dem Newsom auf den ersten Alben ihr Personal rekrutiert hat, erscheint ferner; man ist jetzt auch öfter mal betrunken, oder das Herz ist schwer wie ein "Ölfass".
Liebäugelte ihre Musik schon immer mit der Avantgarde, haben nun sogar modernere Zeiten Eingang in ihr Metaphernreservoir gefunden. Aber von einer anderen Sphäre, einem Garten Eden, in dem die Sängerin ein Stückchen Land für sich gefunden hat, wird doch weiterhin geträumt ("'81"). Episch sind fast alle Songs des Albums, dessen Epizentrum die vergehende, verwehende Liebe ist. Newsom kommt dabei ohne Pathos aus. Einmal heißt es, man müsse der Liebe nur einen Schubs geben, schon verwandelt sie sich in Terror ("Soft As Chalk").
Um diese kleine Verschiebung geht es. "From the courtyard, I floated in and watched it go down", hebt "Have One On Me" an, und es ist die Verheißung einer nie endenden, auch traurigen, aber stets ins Offene weisenden Erzählung. Die heilige Joanna der Schlosshöfe ist zurück mit einem Album, das sie unsterblich macht. Denn "all these songs, when you and I are long gone, will carry on".
Joanna Newsom: "Have One On Me" (Drag City/Rough Trade); B. Buchanan (Hrsg.): "Visions of Joanna Newsom". Roan Press, Sacramento 2010, 177 S., 19,95 US-Dollar
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