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Neuer Roman von Sabrina JaneschEine ernsthaft bedrohliche Welt

Von familiären Traumata erzählt Sabrina Janeschs Roman „Sibir“. Es geht darum, die Erwachsenenwelt genau zu entschlüsseln.

Bloß kein Blick zurück: Ankunft einer Aussiedler­familie im Durchgangs­lager Friedland, 1962 Foto: Will McBride/BPK

Der größte Teil dieses Romans spielt in einer Siedlung am Rande der fiktiven Kleinstadt Mühlheide. Als Handlungsort ist der Stadtrand weit mehr als nur eine geografische Markierung. Er ist zugleich gesellschaftliche Lagebeschreibung der Menschen, die dort wohnen: zugehörig zur Stadt und zum Land, aber doch in notorischer Randlage.

Ein Gefühl der Unbehaustheit bestimmt seine BewohnerInnen; ein Gefühl, das so tief sitzt, dass selbst ihre im bundesrepublikanischen Wohlstand geborenen Kinder es wohl irgendwie geerbt haben. Denn dass Leila, das Kindheits-Ich der Erzählerin, und ihr bester Freund Arnold ihre Freizeit damit verbringen, geheime Vorratslager anzulegen und geheime Hütten bewohnbar zu machen, geht in der Besessenheit, mit der sie diese Vorsorgetätigkeit betreiben, weit über normales Kinderspiel hinaus.

Auch die Gegenstände, die sie horten, sprechen Bände; denn außer Süßigkeiten und Limonade haben die Kinder auch den alten Revolver von Leilas Vater in ein Versteck geschafft. Bald folgt ein Beutel mit Zahngold, geklaut aus dem Keller des örtlichen Alt-Nazis, der dem Vater einmal anvertraut hat, dass er einst im KZ Bergen-Belsen gearbeitet hat.

Zeit dieser Handlung sind die frühen neunziger Jahre. Davor und dazwischen aber gibt es noch eine andere Handlungsebene in einer anderen Zeit und einer anderen Kindheit: der Kindheit von Leilas Vater Josef, der in der kasachischen Steppe aufwuchs, weil seine Familie zu jenen deutschen Zivilisten aus den Ostgebieten gehörte, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion deportiert wurden. (Eben dies war auch das Schicksal des Vaters von Sabrina Janesch, die ihrerseits genau wie ihre kindliche Protagonistin Leila am Rande der Lüneburger Heide aufwuchs.)

Leila, die erwachsene Leila als Erzählerin, rekonstruiert die Geschichte(n) ihres Vaters aus dem Gedächtnis; denn in der heutzutage spielenden Rahmenhandlung, die den Roman einleitet, ist der Vater dabei, in die Demenz zu entgleiten, und leidet darunter, alles vergessen zu haben. Dabei war Vergessen das, was er einst so dringend wollte.

Alles verbrennen, was an früher erinnert

So kommt Leila beim Neuerzählen dessen, was nicht ein weiteres Mal vergessen werden soll, auch die eigene Kindheit wieder nahe, vor allem aber jener Sommer, in dem der Vater beschloss, der gefühlten Vorläufigkeit seiner Existenz etwas Handfestes entgegenzusetzen, ein richtiges Haus zu bauen und im Zuge dessen alles zu verbrennen, was an sein früheres Leben erinnerte.

Obwohl keine der Erzählschichten über einen Handlungsbogen im klassischen Sinne verfügt, sondern beide eher episodisch verlaufen, durchzieht den gesamten Roman dennoch ein latentes Spannungsgefühl – oder vielleicht eine Atmosphäre ständiger Wachsamkeit, die sich bei der Lektüre überträgt.

Das hängt mit der kindlichen Perspektive zusammen, die die Erzählung bestimmt. Denn Leila, Josef und ihre Freunde haben nicht nur Geheimnisse vor den anderen; sie sind auch ständig damit beschäftigt, die rätselhafte Erwachsenenwelt sehr genau zu beobachten und zu entschlüsseln.

Im Falle von Josef ist diese Welt ernsthaft bedrohlich, denn auch nach der traumatischen Reise nach Kasachstan, während der sein kleiner Bruder stirbt und die Mutter auf immer in der Steppe verschwindet, sind die Schrecken nicht vorbei. Angekommen im einsam gelegenen Steppendorf, wird den Deutschen verboten, Deutsch zu sprechen; die Menschen hausen in Erdlöchern, es gibt fast nichts zu essen, und wegen jeder Kleinigkeit kann man verhaftet werden.

Die Welt der Dinge und die der Gefühle

Doch ungeachtet aller Gefahren ziehen Josef und sein kasachischer Freund Tachawi frei durch die weite Landschaft und verfolgen große Projekte: nach Josefs Mutter zu suchen und nach dem Mantel von Tachawis großem Bruder, der seit dem Krieg verschollen ist.

Dinge haben in diesem Roman ein erstaunliches Eigenleben oder auch: eine große Macht über die Menschen. Dem Mantel von Tachawis Bruder etwa kommt so große symbolische Bedeutung zu, dass er sogar an Stelle des Verschollenen begraben werden soll.

Der östliche Kunsthandwerksnippes in Leilas Elternhaus steht für die längst vergangene Kindheit des Vaters und verdeutlicht sein Anderssein. Der geklaute Beutel mit Zahngold (das vielleicht aus dem KZ stammt, vielleicht auch nicht) ist eine Hypothek aus schlechtem Gewissen, das die Kinder stellvertretend mit sich herumtragen. Und so weiter.

Der Roman

Sabrina Janesch: „Sibir“. Rowohlt Berlin, Berlin 2023. 352 Seiten, 24 Euro

Die zahllosen zeichenhaften Bezüge zwischen der doch eigentlich unbelebten Dingwelt und dem Gefühlshaushalt der Menschen durchziehen den Roman ganz leichthin; es ist, als ob ein fantasievolles Kinderspiel im Gange ist, das über alle Dinge und Geschehnisse einen Schleier aus zusätzlicher Bedeutung legt. Zweifellos ist dabei auch viel magisches Denken am Werk; aber von „magischem Realismus“ zu sprechen wäre schon wieder zu viel, weil jede Genrezuschreibung zu sehr nach Kunstwollen klänge.

Der erzählerische Zauber, der aus diesen Seiten spricht, scheint aber ganz und gar absichtslos zu entstehen. Das kann zwar so nicht stimmen, aber eben das ist ja das Tolle daran. Dem erzählenden Erinnern, das hier am Werk ist, fehlt jeder Hang zur verklärenden Nostalgie. Auch das Schwere wird bewahrt, aber beim Erzählen wird es trotz allem seltsam schön.

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