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Neuer Roman von Julian BarnesNiemand hatte „rekreativen Sex“

Julian Barnes schreibt über eine Liebe in den Sechzigern. „Die einzige Geschichte“ bewegt sich auf den Spuren einer unzuverlässigen Erinnerung.

Barnes' Protagonist ist „stolz darauf, dass ich anscheinend in genau der Beziehung gelandet war, die bei meinen Eltern am meisten Anstoß erregte“ – Tennisspieler*innen in den sechziger Jahren Foto: Imago / United Archives International

„Die meisten von uns haben nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Damit meine ich nicht, dass uns im Leben nur einmal etwas geschieht: Es gibt unzählige Ereignisse, aus denen wir unzählige Geschichten machen. Aber nur ein Ereignis ist von Bedeutung, nur eines ist letzten Endes erzählenswert.“ Das ist für Paul Roberts, Erzähler in Julian Barnes’ Roman „Die einzige Geschichte“, seine erste große Liebe. Seine Liebe zu Susan, einer fast 30 Jahre älteren Frau.

„Die Zeit, der Ort, das soziale Milieu? Ich weiß nicht, ob das in Geschichten über die Liebe wichtig ist.“ Wie so oft bei Barnes überlässt sein Erzähler dem Leser die Antwort. Und erzählt erst mal vom historisch-sozialen Kontext seiner Geschichte. Es sind die 1960er Jahre, Paul ist 19, hatte bereits ein Jahr studiert und kehrt für drei Monate in sein Elternhaus zurück.

Das steht in einem unscheinbaren Vorort Londons, der den „neckischen Namen ‚The Village‘“ trägt. Seine Mutter drängt ihn, in den örtlichen Tennisclub einzutreten, in der Hoffnung, dass er dort eine „nette blonde Christine oder eine quirlige schwarzlockige Virginia“ mit jeweils „verlässlichen, jedoch nicht allzu ausgeprägten konservativen Neigungen“ kennenlernt. Was Paul dann auch macht, mit wenig Überzeugung, aber aus Ermangelung anderer Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.

Als er Susan bei einem Vereins­turnier kennenlernt, ist sie 48 Jahre alt. Es ist die Zeit der „sexuellen Revolution“, die Zeit des „Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Susan jedoch ist Pauls große Liebe, mit der er am Ende zehn Jahre zusammen ist. Eindeutig ist sie nicht jene „blonde Christine“ oder „schwarzlockige Virginia“, die seine Mutter für ihn vorgesehen hatte.

Das Buch

Julian Barnes: „Die einzige Geschichte“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 304 Seiten, 22 Euro

Tennisclub und Mutter sind, als sie von der Beziehung erfahren, „not amused“. Der Tennisclub kündigt ihm und Susan kurzerhand die Mitgliedschaft, und was seine Mutter angeht, war er „ziemlich stolz darauf, dass ich anscheinend in genau der Beziehung gelandet war, die bei meinen Eltern am meisten Anstoß erregte“.

Zu lieben hieß für ihn „in der Wahrheit“ leben. Einen Satz, den er sich in ein Notizbuch schreibt, in das er Zitate von Schriftstellern und Philosophen zum Thema Liebe notiert. Von denen er allerdings viele später wieder durchstreicht, auch diesen. Aber seine Beziehung zu Susan war auch nicht „­Ältere Frau führt Jüngling in die Geheimnisse der Liebe ein“. Susan ist in sexueller Hinsicht, so Paul, genauso unerfahren wie er. Wenn ihr Mann, mit dem sie seit 20 Jahren nicht mehr geschlafen hatte, Paul als „Gigolo“ bezeichnet, so ist das ebenfalls nicht wahr. Auch für Susan ist er nicht bloß ein „Toyboy“.

Wenn Liebe zur Katastrophe wird

Aber stimmt das alles auch, fragt sich Paul im Rückblick. Ist seine Erinnerung authentisch? Die Details seiner Geschichte sind ihm zumindest unwichtig. Das geht so weit, dass er kleine Fehler in seine Erzählung einbaut. Zum Beispiel einen Taschenrechner erwähnt, den es in den 1960er Jahren noch nicht gab. Stattdessen ist für ihn die Erinnerung selbst authentisch. Zwar hat sie eine „andere Art von Authentizität, aber keine schlechtere. Die Erinnerung siebt und sortiert je nach den Anforderungen, die der Erinnernde an sie stellt.“

Vielleicht ist das der Grund, warum sich „Die einzige Geschichte“ so gut liest. Weil hier ein Erzähler den jugendlichen Elan, die Gefühle und die anarchische Kompromisslosigkeit seiner Jugend zum Teil ungebrochen wiederaufleben lässt. Gleichzeitig bleiben aus dieser – naturgemäß beschränkten – Perspektive die anderen Figuren der Geschichte blass. Selbst über Susan erfährt der Leser nur das Nötigste. Aber das ist auch okay so, denn was wäre das für eine Liebe, die nicht für die Wahrnehmung der anderen blind machen würde? Abgesehen davon, dass sich Julian Barnes’ Erzähler am Ende auch zu diesem Problem Gedanken macht.

Wunderbar ist auch Barnes' englischer Humor. „Heute sprechen wir von transaktionalem Sex und rekreativem Sex. Damals hatte niemand rekreativen Sex.“ Dass die „einzige Geschichte“ dann am Ende in einer Katastrophe endet, ist so tragisch wie traurig. „Meiner Meinung nach“, hatte Paul in sein Notizbuch geschrieben, „ist jede Liebe, ob glücklich oder unglücklich, eine wahre Katastrophe, sobald man sich ihr voll und ganz hingibt.“ Es ist einer der wenigen Sätze, den er über die Jahre nicht durchgestrichen hat.

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2 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Ich befürchte: dieser Paul weiß nicht wirklich, was LIEBE ist.

    Offenbar hat er nicht sämtliche Facetten von Liebe erlebt. Vor allem nicht den Tanz auf der Rasierklinge - zwischen der absoluten ozeanischen Verschmelzung und dem endlosen Absturz in tiefste Tiefen.

    Liebe wird nur dann zu einer Katstrophe, wenn sie der Betreffende nicht versteht oder sich ihr nicht wirklich hingibt.

    Dem wirklich Liebenden ist es völlig egal, was daraus entsteht - oder nicht entsteht.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Barnes' späte Gegenthese zu "The Graduate"? Warum nicht.



    Der letzte Satz ist sowas von wahr, dass man ihm allein dafür getrost mal wieder einen Preis in die Hand drücken könnte