Neuer Roman von Alina Bronsky: Haferschleim und Klavierstunden
Ein Junge und seine paranoide Großmutter sind Bronskys Hauptfiguren. Und alle Menschen sind unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar.
Es gibt ganz selten mal welche, die können dünne Bücher schreiben, weil sie mit wenigen Worten auskommen. Das meiste steht sowieso zwischen den Zeilen. So ist es oft bei Alina Bronsky, die aber nicht nur eine Meisterin des Unausgeschriebenen, sondern auch eine Zauberin der Perspektive ist – beziehungsweise, darüber hinausgehend, der Figureneinfühlung.
Bronskys neuester Roman ist ein kleines Kabinettstück, was all dies betrifft. Ganz und gar aus der Perspektive eines heranwachsenden Kindes geschrieben, ist die Hauptperson von „Der Zopf meiner Großmutter“ eine andere, nämlich eben jene Großmutter.
Irgend etwas scheint mit der Frau nicht zu stimmen; aber was das ist, daran tastet sich der Roman nur langsam heran. Denn der kleine Maxim, der Ich-Erzähler, ist sehr lange nicht in der Lage, die komplizierten Verhältnisse in der Erwachsenenwelt auch nur annähernd zu durchschauen.
Der Junge lebt mit seinen Großeltern in einem Wohnheim für jüdische Einwanderer aus Russland. Juden sind sie zwar nicht, aber sie durften nach Deutschland kommen, weil angeblich der Schwager eines Cousins des Großvaters … Oder so.
Die paranoide Großmutter
Maxim versteht das alles nicht, zu Beginn des Romans ist er ja auch erst im Vorschulalter und nimmt es hin, dass die Großmutter zwar an Feiertagen mit den anderen zur Synagoge geht, aber sonst immer auf die Juden schimpft und vor allem den Enkel ständig warnt, er solle sich nicht von „dem rothaarigen Juden“ entführen lassen; eine Figur, die man unweigerlich als Pendant zum chimärischen „schwarzen Mann“ begreift.
Was die Warnung in Wirklichkeit bedeutet, wird Maxim – und also wir alle – erst gegen Ende des Romans herausfinden. Doch zunächst hat er jahrelang unter der paranoiden Überängstlichkeit der Großmutter zu leiden, die ihn ausschließlich mit Haferschleim und ähnlichem Zeug ernährt, da sie befürchtet, er könnte sonst sterben, und die, als Maxim eingeschult wird, im ersten Jahr darauf besteht, mit in die Schule gehen zu müssen, damit ihm nichts zustößt.
Die unschuldige Naivität des Ich-Erzählers, der lakonische Tonfall des Textes und die Absurdität der geschilderten Verhältnisse gehen eine so eigene Koalition miteinander ein, dass, auf der einen Seite, eine recht spezielle Form der Komik entsteht. Doch hinter dem Absurden lauert spürbar etwas Unbekanntes, möglicherweise sogar Bedrohliches. Vielleicht hat die furchteinflößende Großmutter ja das Münchhausen-Syndrom?
Episoden der menschlichen Komödie
Die Situation entschärft sich zugunsten von Maxim, als eine echte, ziemlich große Familienkrise eintritt: Der sonst so stoische Großvater hat sich verliebt und sehr überraschend ein Kind mit Maxims Klavierlehrerin gezeugt. Erst jetzt zeigt sich, was wirklich in der Großmutter steckt; denn statt in Verzweiflung und Hysterie zu verfallen, macht sie sich zum Oberhaupt einer ungewöhnlichen kleinen Patchworkfamilie. Allerdings ist damit längst noch nicht alles gut …
„Der Zopf meiner Großmutter“ erzählt eine Geschichte, die so viele tragische und dramatische Züge enthält, dass sie sehr passend auch als Melodram wiedergegeben werden könnte. In der Bronsky-Erzählwelt aber läuft das anders. Dort werden auch Dramen und Tragödien zu Episoden einer großen menschlichen Komödie. Der Mensch, nein, alle Menschen sind darin so unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar, dass sie noch in Momenten höchster Not für Überraschungen gut sind.
Alina Bronsky: „Der Zopf meiner Großmutter“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 224 Seiten, 20 Euro
Es ist, als läge ein nachsichtiges göttliches Lächeln über dem Text; eine Art schützende Aura vor den unleugbaren Zumutungen des Lebens. Und am Ende dieses nur äußerlich kleinen Romans wird nicht nur Maxim erwachsen geworden sein, sondern auch seine Großmutter wird sich von ihrem früheren Selbst emanzipiert haben. In der Bronsky-Welt hat nämlich wirklich jeder Mensch das Recht auf seinen ganz persönlichen Entwicklungsroman.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern
Pistorius wird nicht SPD-Kanzlerkandidat
Boris Pistorius wählt Olaf Scholz