Neuer Roman über Berlin: Satan und Studiengruppe
Der Konkurrenzkampf an einer Ost-Berliner Theaterhochschule ist tödlich. Davon erzählt Christiane Neudecker in „Der Gott der Stadt“.
Diese Schriftstellerin ist eine Sprachhexe. Christiane Neudecker lockt ihr Publikum gern in ein geheimnisvolles Erzählhäuschen, in dem freilich nicht geknuspert werden darf, sondern alles, was mit heiligem Ernst eingeführt wurde, schließlich im literarischen Höllenofen landet. Der Romantitel „Der Gott der Stadt“ bezieht sich auf das gleichnamige Gedicht von Georg Heym, dem legendären Düsterpoeten, der 1912 mit 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen ins Eis der Havel einbrach.
Heym hinterließ ein schmales, aber bedeutendes Werk mit expressionistischer Lyrik, Dramenfragmenten und Novellen. Bei Heym ist der Gott der Stadt ein blutrünstiger Baal, der sich am urbanen „Korybanten-Tanz“ ergötzt, an den orgiastischen Ritualen jener Dämonen, die nach antiker Vorstellung die Göttermutter Kybele begleiten: „Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. / Die Winde lagen schwarz um seine Stirn. / Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit / Die letzten Häuser in das Land verirrn.“
Von Irrungen und Wirrungen sehr unterschiedlicher Art erzählt auch Neudeckers Roman, in dem die Götter immer auch ihre teuflischen Seiten zeigen. Ein berühmter Regisseur und Theatergott namens Korbinian Brandner übernimmt jedenfalls 1995 an der Ost-Berliner Hochschule für Schauspielkunst Erwin Piscator einen neuen Regie-Jahrgang. Katharina, Tadeusz, Schwarz, François und Nele haben die fünf begehrten Plätze ergattert, und gleich zu Beginn des Studiums müssen sie sich beweisen.
Lustiges Spiel wird bitterböser Theaterernst
Brandner hat eine Prüfung angesetzt, die wie ein lustiges Studienspiel anmutet und sich als bitterböser Theaterernst entpuppt. Aus einem rätselhaften Faust-Fragment Georg Heyms soll eine vorzeigbare Inszenierung entstehen, die pünktlich zum Todestag des Dichters auf einer Probebühne aufgeführt werden soll.
Brandner, ganz Schauspielsatan, schwört die eingeschüchterte Studiengruppe in weihevollem Ton ein: „Sie werden sich auf ein Abenteuer begeben, auf die Spuren eines genialen Künstlers. […] Sie werden seine Zerrissenheit spüren, seine Qualen, sein Genie. Sie werden seinen Dämonen begegnen – und Ihren eigenen.“
Die eigenen Dämonen lernen die fünf Regielaien schon allein deshalb kennen, weil Brandner jedem Zögling unterschiedliche Bruchstücke des Fragments zuteilt, die zunächst in Eigenregie analysiert und interpretiert, dann aber zusammen mit den Kommilitonen für die Bühne erarbeitet werden müssen. Neid beherrscht das Team, das keines ist.
Welche Recherchen, fragen sich die überengagierten Studienanfänger, müssen geteilt, welche Informationen besser für sich behalten werden, um beim großen Schauspielmeister zu punkten? Das alte Faust-Thema ist näher, als die Ich-Erzählerin Katharina zunächst glaubt. Muss sie sich mit dem Teufel einlassen, um den angebeteten Professor zu überzeugen? Oder sollte sie besser gegen die in ihrer Männermacht so herablassende Professorengarde rebellieren, wie es Schwarz tut?
Der Konkurrenzkampf macht die Protagonisten zu Bühnenfiguren, die ihre Stärken und Schwächen im Scheinwerferlicht nur schlecht verbergen können. Neudecker leuchtet ihre so widersprüchlichen und gerade deshalb sympathischen Helden in jeweils eigenen Kapiteln aus, die in personaler Erzählperspektive gehalten sind. Ein probates Mittel, um nicht nur die Glaubwürdigkeit Katharinas, also die der zentralen Erzählstimme, zu erschüttern, sondern auch die Ängste und Neurosen, vor allem aber die Missgunst untereinander darzustellen.
Dermaßen schwer lastet der psychische Druck auf den fünf, dass der Sensibelste nur im Tod einen Ausweg zu finden scheint. Ist der spektakuläre Suizid womöglich der letzte Versuch eines verzweifelten Schülers, um dem morbiden Heym-Fragment gerecht zu werden? Oder handelt es sich um einen teuflischen Racheakt gegenüber der Prüfungskommission, die nun am medialen Pranger steht?
Die Schlagzeilen verfehlen ihre Wirkung jedenfalls nicht, zumal bald herauskommt, dass der Theatergott zu DDR-Zeiten einen Pakt mit dem Stasi-Teufel eingegangen ist, um die eigene Karriere voranzutreiben.
Der Clou des Romans aber besteht vor allem darin, dass die Autorin Lyrik, Prosa und Drama miteinander verbindet, dass sie die literarischen Gattungen in ein produktives Verhältnis setzt, ohne ihre Eigenständigkeiten zu schleifen. Neudecker nimmt das narrative Moment der expressionistischen Lyrik ernst und erzählt mit dem rauschhaften Treiben der Theaterschüler im nasskalten Nachwende-Berlin tatsächlich eine Art Korybanten-Tanz.
Die Autorin, die selbst an einer Berliner Schauspieluni studiert hat, weiß aber auch, dass sich nicht aus jedem Fragment eines genialen Dichters ein gutes Theaterstück inszenieren lässt. Wenn nämlich der größte Sprachkünstler zwischendurch mal etwas aufs Papier kritzelt, das die Nachwelt besser nicht überbewerten sollte.
Spannungselemente wechseln ab mit Seelenlandschaft
Neudeckers Prosapoesie beeindruckt, weil sie die Sprach- und Motivebenen kunstvoll miteinander verknüpft, ohne mit dem literarischen Geflecht anzugeben. Wenn die Textrecherche der Theaternovizen ins Akademische zu kippen droht, spielt Neudecker plötzlich mit Spannungselementen. Wenn man wiederum einen Thriller zu lesen meint, wechselt die Autorin erneut den Tonfall und fasziniert mit ausdrucksstarken Beschreibungen von Seelen- und Natur- und Stadtlandschaften.
Christiane Neudecker: „Der Gott der Stadt“, Roman, Luchterhand Verlag, München 2019, 667 Seiten, 24 Euro
Kaum hat man sich die Frage gestellt, ob der Roman nicht zu sehr auf poesienostalgische Stimmungen setzt und vielleicht etwas in die Breite geht, überrascht Neudecker mit rasanten Monologen etwa des Einzelgängers Schwarz, der zu den stärksten Figuren des Romans gehört.
Wie sich dieser hochbegabte Rücksichtslose durch sein riskant-lustvolles Leben schlägt, wie er sich mit Drogen vollpumpt, aber doch den klarsten Blick aufs Theaterstudium hat, ist überzeugend formuliert und zeigt die literarischen Fähigkeiten Neudeckers, die sich in der Rollenprosa radikaler Charaktere ganz besonders entfalten.
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