Neue Wege bei psychiatrischer Versorgung: Hamburg will psychisch Kranke besser versorgen
Hilfsverbünde im Bezirk sollen Menschen mit komplexen Problemen Klinikaufenthalte ersparen. Andere Länder sind schon lange so weit.
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Hamburg will neue Wege in der psychiatrischen Versorgung gehen. Der Landespsychiatrieplan, den Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) jetzt vorstellte, ist zumindest ein großer Schritt zur Betreuung psychisch schwer erkrankter Menschen, die die Betroffenen ins Zentrum rückt. Der Plan soll eine bedarfsgerechte, wohnortnahe und niedrigschwellige Versorgung ermöglichen und nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen verbessern, sondern präventiv wirken und zum Beispiel schwere Straftaten verhindern. „Wir wollen Brücken bauen, wo bisher Gräben waren“, sagte Schlotzhauer.
Kernstück des Vorhabens sind sieben Gemeindepsychiatrische Verbünde (GPV), die sich an den Grenzen der Hamburger Bezirke orientieren. Hier sollen Hilfesysteme von Krankenversicherung über Suchthilfe bis zur Wohnungslosenhilfe ineinandergreifen. Bereits bestehende Strukturen sollen weitgehend erhalten bleiben. Bis Ende des Jahres sollen im Hamburger Süden und im Bezirk Eimsbüttel die ersten zwei GPV entstehen. Die übrigen folgen später.
Solche Verbünde gab es in Hamburg bisher nicht. In allen anderen Bundesländern – bis auf Bayern – wird bereits mit ähnlichen Ansätze gearbeitet. Ziel ist, Betroffene bedarfsgerecht zu erreichen und sogenannte Drehtüreffekte zu minimieren, also das Phänomen, dass Patient:innen nach einem Klinikaufenthalt entlassen, aber wegen fehlender oder mangelnder Nachsorge bald wieder in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen werden.
Versorgungssystem stößt derzeit an Grenzen
Laut Gesundheitssenatorin Schlotzhauer stößt das bestehende Versorgungssystem immer wieder an Grenzen, insbesondere bei Menschen mit komplexen Problemlagen. Diese seien oft nicht in der Lage, sich selbstständig Hilfe zu organisieren, was zu unfreiwilligen und kostenintensiven Klinikaufenthalten führe. Dies spiegele sich in steigenden Unterbringungszahlen wider, aber auch in der Forensik, wenn also schwere psychische Erkrankungen zu Straftaten führen.
Nun werden aufsuchende Versorgungsangebote gestärkt. Das sogenannte Home Treatment ist ein psychiatrisches Behandlungskonzept, bei dem ein multiprofessionelles Team psychisch erkrankte Patienten flexibel in ihrer gewohnten Umgebung behandelt, statt sie stationär aufzunehmen. „Wir kommen zu den Menschen, nicht umgekehrt“, so Gesundheitssenatorin Schlotzhauer. Außerdem werden Angebote zur Krisenintervention, zur Selbsthilfe und Anti-Stigma-Arbeit ausgebaut, darunter sind spezifische Angebote für junge Menschen, Wohnungs- und Obdachlose sowie Frauen mit Gewalterfahrungen. Außerdem werden dezentrale forensische Institutsambulanzen eine niedrigschwellige Behandlung außerhalb von Kliniken ermöglichen.
Andere norddeutsche Länder wie Niedersachsen oder Schleswig-Holstein setzen schon länger auf Verbünde.
In Niedersachsen sind Sozialpsychiatrische Verbünde (SpV) seit 1997 verpflichtend für alle Kommunen. Per Gesetz ist vorgeschrieben, dass jede Kommune einen SpV einrichten muss, der als Koordinierungsstelle für die Zusammenarbeit verschiedener Hilfsanbieter fungiert und die kommunale Verwaltung in Belangen psychisch kranker Menschen berät. Bei der Umsetzung gibt es allerdings große regionale Unterschiede.
In Schleswig-Holstein gibt es bislang neun
, ein weiterer befindet sich in Neugründung, zwei existieren in einer eigenständigen Form.In Bremen haben sich die sozialpsychiatrischen und Suchthilfe-Anbieter zusammengeschlossen. Diese Verbünde umfassen unabhängige Fürsprache- und Beschwerdestellen für Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter. Genesungsbegleiter:innen, die selbst Erfahrungen mit psychischen Krisen haben, leiten diese Stellen und bieten kostenlose Unterstützung bei Problemen im sozialpsychiatrischen Versorgungs- und Suchthilfesystem an.
Ein zentraler Bestandteil des neuen Psychiatrieplans ist die Einrichtung einer Präventionsstelle zur Verhinderung forensischer Krankheitsverläufe und schwerer Straftaten. Es geht darum, die Früherkennung von Risikopatient:innen zu verbessern und die Beratung von Betroffenen und Angehörigen auszubauen. Es handele sich ausdrücklich nicht um ein Register schwer psychisch erkrankter Menschen, so Schlotzhauer.
Jürgen Gallinat vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) begrüßt den Ansatz, das bisher „fraktionierte und wenig koordinierte“ System zu überwinden. Auch Stephanie Wuensch von der Stiftung Freundeskreis, die Hilfen für psychisch erkrankte Menschen anbietet, lobt die Einbindung aller Akteur:innen und die „messbaren Ergebnisse in ungewöhnlich kurzer Zeit“. Astrid Jörns-Presentati vom Asklepios Klinikum Harburg betont, dass es in der Modellregion im Hamburger Süden viele positive Erfahrungen mit dem dezentralen Ansatz gibt.
Finanziert werden soll der Psychiatrieplan mit Geld der Stadt und der Krankenkassen. Im Hamburger Haushalt sind jährlich rund sieben Millionen Euro für die Maßnahmen vorgesehen. Bestehende Projekte wie etwa das Pilotprojekt „DreiFürEins“, bei dem zwei Hamburger Kinder- und Jugendpsychiatrien gemeinsam mit den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sowie der Kinder- und Jugendhilfe zusammenarbeiten, sollen fortgeführt werden. Dieses Projekt wird bereits durch Innovationsfonds und Brückenfinanzierungen unterstützt.
Personal soll aus verschiedenen Bereichen kommen
Das Personal für die neuen Maßnahmen soll aus verschiedenen Bereichen rekrutiert werden, darunter Fachleute aus Krankenhäusern, sozialpsychiatrische Dienste und Selbsthilfeorganisationen. Der Plan sieht vor, bestehende Strukturen zu erweitern, etwa durch die Einbindung von Expert:innen aus den allgemeinpsychiatrischen Fachabteilungen der Hamburger Krankenhäuser. Zusätzlich sollen neue Stellen für die aufsuchenden Angebote und regionalen Verbünde geschaffen werden.
Insgesamt umfasst der Landespsychiatrieplan 14 Ziele und 25 Maßnahmen. Der Senat hat den Plan bereits beschlossen, die Bürgerschaft wird am 26. Februar darüber abstimmen.
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