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Neue Volkslieder in der UkraineDie eigene Stimme wiederfinden

Seit Beginn des Kriegs haben Mu­si­ke­r in der Ukraine neue Lieder geschrieben. Diese verdrängen die englischen und russischen Songs aus den Charts.

Im April in Borodjanka nahe Kyjiw: Eine Musikerin performt vor einem zerstörten Gebäude Foto: David Peinado/Zuma/imago

A ls mir mein Großvater Fedos einmal von seiner Kindheit in der Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählte, erwähnte er einen interessanten Aspekt: Obwohl Millionen von Ukrainern in den Reihen der Sowjetarmee gekämpft und die Nazis aus der Ukraine verjagt hatten, gibt es darüber kein einziges Volkslied. Dabei sind die Ukrainer ein sehr sangesfreudiges Volk.

Война и мир – дневник

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Seine gesamte Geschichte – Kosakenzüge, Bauernaufstände, der Kampf für die Unabhängigkeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts – spiegelt sich auch in entsprechenden Liedern wider. Aber alle bekannten Lieder über den Zweiten Weltkrieg gab es nur in russischer Sprache. Es schien, als habe ein ganzes Volk seine Stimme verloren.

Dabei lässt sich das leicht erklären. Denn das Herz des Volkes war schon unter Stalin während des Holodomor, der großen Hungersnot von 1932/33, vernichtet, Hunderttausende Ukrainer waren in sibirische Lager verschleppt worden.

Und die Elite der ukrainischsprachigen Intelligenz der 1920er und 1930er Jahre, Dichter, Theaterleute und Künstler – bekannt als „die hingerichtete Renaissance“ – waren 1937 zu Tode gequält worden. Für diejenigen, die davon verschont blieben, wurden unbedingter Gehorsam gegenüber einem repressiven Staat und die russische Sprache quasi die Eintrittskarte zum Leben. Russisch wurde zur Lingua franca der Ukraine.

Bild: privat
Rostyslav Averchuk

ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Musik zur Beruhigung

Lieder spiegeln immer echte Gefühle wider – aber für die war in der Sowjetunion kein Platz. Ganz anders die Situation zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine: Lieder wurden sofort die Stimme des ukrainischen Widerstands und der Empörung. Als mir in den ersten Wochen vor lauter Schreck fast das Herz aus der Brust sprang, beruhigte mich das bekannte ukrainische Lied: „Oh, roter Schneeballstrauch auf der Wiese“. Es wurde vor mehr als hundert Jahren nach Motiven eines Kosakenlieds aus dem 17. Jahrhundert geschrieben, handelt vom Unglück der Ukraine und vergleicht sie mit einem geknickten „roten Schneeballstrauch“, einem der Symbole des Landes.

Das Lied verspricht, dass die Ukrainer alles tun werden, um den Schneeballstrauch, also die Ukraine, wieder „aufzurichten“ und „aufzumuntern“. Der Erste, der dieses Lied neu interpretierte, war der bekannte Sänger Andrij Chlivnjuk von der Gruppe Boombox, der wie viele andere Künstler mit dem Kriegsbeginn das Mikrofon gegen eine Waffe eingetauscht hat. In verschiedenen Fassungen, darunter eine Bearbeitung von Pink Floyd, kann man das Lied auf YouTube, im Radio und durch viele geöffnete Autofenster hören.

Jetzt gibt es Hunderte verschiedener Interpreten, die eigene Lieder über die aktuellen Ereignisse machen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren haben sie englisch- und russischsprachige Lieder von den ersten Plätzen der Charts verdrängt. Die Ukrainer haben ihre Stimme wiedergefunden.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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6 Kommentare

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  • Der Import aller Bücher, die in Russland und Belarus herausgebracht wurden, unabhängig vom Autor ist in der Ukraine bereits verboten. Kommen demnächst Vorschriften zu ‚entarteter‘ Musik? Krieg macht dumm.

    • @guzman:

      Russische Propaganda macht dumm. Versuchen Sie mal, in Putinland einen unabhängigen Verlag zu finden. Womöglich noch für ein regimekritisches Werk.

      Was in den letzten Jahren in Russland publiziert wurde, ist zum größten Teil mit dem Begriff "Nazischeiße" hinreichend zusammengefasst. Selbst die "Protokolle der Weisen von Zion" wurden jahrelang vom Patriarchen und vom Außenministerium promotet. Mittlerweile ist das Buch als solches verboten, aber als Teil von Anthologien über die "jüdische Weltverschwörung" kriegt man es in jeder besseren Buchhandlung.

      Und im übrigen waren bis zur 2022er Invasion nur russische Propagandawerke verboten. Wie gesaght, Putin-Propaganda macht dumm - so dumm, dass man es allen Ernstes als moralisch anrüchig ansieht, wenn ein überfallenes Land den Handel mit dem Angreifer einstellt.

      Vorschriften gegen "entartete Kunst" gibt es in Russland. Der Antizensurpassus in der russischen Verfassung wird seit rund 10 Jahren systematisch ausgehebelt durch Verbote von Darstellungen von "Blasphemie", "widernatürlicher Sexualität", "Respektlosigkeit gegen die Obrigkeit" - und auch die schlichte Darstellung der Ukraine als unabhängigem Staat, oder auch einfach nur die Bezeichnung von Krieg als "Krieg".

      Um es mit den Worten des damals zuständigen Titelbetrügers Medinsky zu sagen: alles muss unterdrückt werden, was die Empfindungen der "konservativen Mehrheit der Weltbevölkerung" verletzt.

      Und aus so einem Land wollen Sie Bücher importieren? Zum Verbrennen, oder warum?

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Gibt es auch Lieder über die Machnowtschina?



    anarchismus.at/ges...die-machnowtschina

  • Liegt die Lösung dann darin, dass wir alle auf der Welt wieder unsere „ureigensten“ Volkslieder reaktivieren oder neu erschaffen. Ist womöglich die Verwendung anderer Sprachen Schuld am Krieg? Wir sollten aufpassen, nicht immer engstirniger, reaktionärer, nationalistischer und am Ende völkischer zu werden.

    • @PolitDiscussion:

      Ukraine tickt... etwas... anders...

      Was bei uns ein nationalistisches Geknödel wäre, kann dort auch germe mal feinster Elektro sein, der traditionelle slawische und tatarische mit modernen westlichen Stilelementen verbindet:



      www.youtube.com/watch?v=BvgNgTPTkSo

      Die ukrainische Identität ist schwer zu verstehen, wenn man aus einem Land kommt, das sich verbissen dagegen wehrt, seinen Charakter als *das* zentrale Einwanderungsland Europas anzuerkennen. Ukraine ist nicht nur das ältere Rus'-Land (deswegen muss sie auch zerstört werden: ihre Existenz ist eine ständige Widerlegung von Putins Pseudohistoriographie), sondern war von Anfang an liminal, an einer Grenze zwischen Kulturräumen verortet, und Einflüsse aus der orthodoxen, der katholisch-protestantischen, der jüdischen und der islamischen Sphäre absorbierend und synthetisierend. Aus Sicht der Putinisten: verkommene, verweichlichte, verschwulte und verjudete Verräter am kulturell und "rassisch" überlegenen Rus'.

      Kein Wunder, dass so wenige junge Menschen es in Putinland noch aushalten können. Kein Wunder, dass Kyiv die Stadt ist, wohin sich die modernen Linken Russlands am liebsten absetzen. Ukraine ist das Rus' der Wahl für all diejenigen, die eine schwarz/weiße Welt, die von "arischen" Herrenmenschen unterjocht wird, und in Märchen aus einer nie dagewesenen Vergangenheit schwelgt, ablehnen.

      Bis Mitte der Nullerjahre war Russland noch eine Kulturnation ersten Ranges. Dann ging es stetig bergab, und die Dugins und Fomenkos übernahmen.