Neue Methode an Hamburger Grundschulen: Lesen lernen laut im Chor
Ein neues Lesetraining für Grundschüler*innen ist so erfolgreich, dass Hamburg perspektivisch die flächendeckende Ausweitung plant.
Hamburg taz | Obwohl Hamburgs Viertklässler sich im Fach Deutsch in jüngster Zeit verbesserten und im Ländervergleich nicht mehr auf den hinteren Plätzen stehen, sieht Schulsenator Ties Rabe (SPD) Handlungsbedarf. „Ein Viertel bis ein Fünftel der Grundschüler kann nach Klasse vier einen Text nicht so lesen, dass sie den Inhalt verstehen“.
Und das ist ein Problem. Das flüssige Lesen, so haben es Forscher heraus gefunden, gilt als wesentliche Voraussetzung für den weiteren Schulerfolg, weil die Kinder sonst an den Buchstaben hängen bleiben und auch in den anderen Fächern nicht mitkommen.
Die Lösung sieht der Senator in einer neuen Leseförderung namens „Bildung durch Sprache und Schrift“, kurz Biss. Diese bereits seit 2015 an sechs Grundschulen erprobte Methode war so erfolgreich, dass sie jetzt auf 50 Grundschulen ausgeweitet wird.
Wichtig sei, dass man „zu festen Zeiten lesen wirklich übt“, sagte Rabe. Denn es sei nicht so, „dass es irgendwann Klick macht, und dann läuft es“. An der Pilotschule Kirchdorf in Wilhelmsburg etwa, von der auch ein Film erzählt, gibt es jeden Morgen von 8.50 Uhr bis 9.10 Uhr eine feste Lesezeit im Stundenplan.
Diese Lesezeit sei für Kollegen „die schönste Zeit am Tag“, sagte Schulleiter Christian Gronwald. An seiner Schule fehlten den Kindern „Vorläuferfähigkeiten“, die andere Kinder bereits bei der Einschulung hätten, weil Zuhause wenig vorgelesen werde. Die Kinder bräuchten einen Zugang zu Literatur, der Lesefreude wecke. Das gelinge nicht, wenn Lesen nur „unangenehme Schulpflicht“ sei.
Bei der neuen Leseförderung wird laut gelesen: Beginnend mit dem „Lesen der ganzen Klasse im Chor“, bei dem die Lehrerin ein Buch vorliest, die Kinder mitlesen und mitmurmeln und ihren Finger an die richtige Stelle im Text setzen. Es folgt das „Tandemlesen“, bei dem ein schwacher einem stärkeren Leser vorliest und dieser ihn nur bei Fehlern korrigiert. Es gibt auch das „Würfel-Lesen“, da sind die Kinder reihum dran, das „Theater-Lesen“, bei dem das Gelesene gespielt wird, und das Lesen mit Hörbüchern.
Vor einer ganzen Klasse vorzulesen könnte für Kinder, die nicht gut lesen, schwierig sein, „weil es diskriminiert und beschämt“, räumte der Kölner Sprachforscher und Biss-Mitentwickler Michael Becker-Mrotzek ein. „Deshalb drehen wir es um: Die Lehrerin oder die gute Schülerin liest vor.“ Dadurch, dass die Kinder die Wörter gleichzeitig sehen und hören, nutzen sie den visuellen und den auditiven Kanal. „Das ist der lerntheoretische Punkt dabei, dass zwei Sinneskanäle gleichzeitig genutzt werden“. Dadurch, dass dies regelmäßig gemacht werde, „schleifen sich zunächst die häufigen Wörter ein“, so Becker-Mrotzek.
Die wissenschaftliche Begleitung ergab eine steile Kurve. Kinder, die in Klasse zwei schlecht lasen, wurden bis zum Ende von Klasse vier überdurchschnittlich gut. Diese Botschaft habe viele Schulen angesteckt, sagte Rabe. Deshalb sollen nun erst mal 50 weitere Grundschulen teilnehmen. Doch es gibt rund 200.
Die Linke Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus fragte daraufhin, „wieso dürfen nicht alle Schulen in den Genuss der Förderung kommen?“. Der Bedarf sei riesig. Zudem gilt die Methode für alle Kindern als förderlich.
Dazu sagt Rabes Sprecher Peter Albrecht, für noch mehr Schulen reichten die Ressourcen der Fortbildungsinstitute nicht aus. „Solche Experten gibt es deutschlandweit nur eine Hand voll – und davon schon überproportional viele in Hamburg“. Deshalb würde auch mehr Geld nichts nützen.
Es sei aber geplant, ab dem nächsten Schulhalbjahr alle Sprachlernberater der Grundschulen im Rahmen ihrer regelmäßigen Fortbildung „besonders zu qualifizieren“, sagt Peter Albrecht. So könnte künftig „jede Hamburger Grundschule Lesetraining einführen“.
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