Neue Machthaber in Afghanistan: Talib or not Talib
Berichte über Hinrichtungen nähren Zweifel an der Amnestie, die die Taliban ihren Gegnern versprochen haben. Doch nicht immer ist klar, wer Talib ist.
Drei Dutzend Frauen haben am Donnerstag vor dem Gouverneurssitz im westafghanischen Herat für eine Beteiligung in der künftigen Regierung demonstriert. Sie hielten Schilder hoch, auf denen sie „Bildung, Sicherheit und Arbeit“ als „unsere Grundrechte“ bezeichneten. „Wir werden nicht still sitzen, wie die Taliban es fordern“, wurde eine der Beteiligten zitiert.
Zuvor hatten Taliban am Mittwoch nach Berichten afghanischer Journalisten gegnerische Kämpfer umgebracht, nachdem die sich ergeben hatten. Auslöser war die vorher vereinbarte Entwaffnung von Kämpfern des Chesisch-e Melli (Nationaler Aufstand), einer lokalen Miliz der bisherigen Regierung, in der zentralafghanischen Provinz Daikundi. Neun Chesisch-Leute seien exekutiert worden.
Der Bericht verstärkt verbreitete Zweifel an der Amnestie für Angehörige der früheren Regierung und ihrer bewaffneten Kräfte, wie sie die Taliban wiederholt verkündeten. Die BBC berichtete am Dienstag unter Berufung auf „mehrere Quellen“ die Hinrichtung der Polizeichefs der Provinzen Badghis und Farah, Hadschi Mulla Atschaksai und Ghulam Sachi Akbari, durch Taliban. Die Deutsche Welle bestätigte zuvor, dass bei der Durchsuchung des Hauses eines ihrer früheren Mitarbeiter ein Familienmitglied erschossen wurde.
Es gibt Berichte über zusammengeschlagene Journalisten, geschlossene Frauenorganisationen und bedrohliche Hausbesuche, teilweise mit Verhaftungen, bei früheren Offiziellen und zivilgellschaftlichen Aktivist:innen, aber auch von Freilassungen von Beamten, die nach dem Umsturz verschwunden waren. Ein Betroffener berichtete, er sei beim neuen Talibangouverneur gewesen, aber „ob als Gast oder Gefangener, war unklar“. Viele Menschen, nicht nur Prominente, sind deshalb aus Angst untergetaucht.
Keine Gnade für die Gegner
Michael Semple, früherer UN- und EU-Mitarbeiter in Afghanistan und Talibankenner, inzwischen an der Queens-Universität Belfast, wertete das im BBC-Radio als Beweis dafür dass die Taliban-Militärkommandeure „nicht die geringste Absicht haben, die Bewegung zu reformieren oder Menschenrechtsstandards einzuhalten“. Diese sei vielmehr „in Panik“, weil sie keinen Plan zum Regieren hätten, meinte er unter Berufung auf Talibankontakte.
Patricia Grossman, bei Human Rights Watch für Afghanistan zuständig, sprach von „polizeistaatsähnlichem Verhalten“, sagte aber auch, dass es bisher „keine landesweiten Massenrepressalien“ gegeben habe und einige „Tötungen sich als Fälle persönlicher Rache erweisen könnten“. Aus dem über zwanzig Jahre von allen Seiten äußerst brutal geführten Krieg sind viele private Rechnungen offen
Auch die niederländische Afghanistan-Analystin Martine van Bijlert spricht von einem „gemischten Bild“. Sie weist daraufhin, dass es bisher keine „Regeln“ für die Talibankämpfer“ gebe, die in den Straßen Polizeiaufgaben erfüllen und deshalb selbst entscheiden könnten, gegen wen sie vorgehen. Im Moment könne aber „jeder mit einer Waffe und in traditioneller Kleidung behaupten, ein Talib zu sein.“ Große Teile Kabuls werden von kriminelle Netzwerken heimgesucht. Laut Van Bijlert sei aber klar, dass die Taliban „wenig Gnade für die zeigen, die sie weiter bewaffnet bekämpfen“.
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