Neue Linkspartei in Großbritannien: Mit ganz vielen linken Händen
Die britische „Your Party“ von Ex-Labourchef Jeremy Corbyn hält ihren Gründungsparteitag. Die Grenze zwischen Pluralismus und Streit ist fließend.
Vor dem Konferenzzentrum von Liverpool stehen die Socialist Party, die „Sozialist:innen für Tierbefreiung“, die „Liverpooler Freund:innen Palästinas“ und die Kampagne für nukleare Abrüstung CND. Drinnen hat man die Wahl zwischen dem ehemaligen kommunistischen Parteiblatt Morning Star, der Gewerkschaft arbeitender Migrant:innen, der Flüchtlingshilfsorganisation "Care 4 Calais", der Kampagne „Stand Up to Racism“, den Solikampagnen mit Kuba und Venezuela sowie gleich drei propalästinensischen Ständen.
Es ist Gründerzeit bei der britischen Linken. 2.400 Delegierte, per Losverfahren unter den 50.000 Mitgliedern, sind zum Gründungsparteitag der neuen linken Partei Großbritanniens angereist, die bisher unter dem provisorischen Namen Your Party firmiert.
Das gleicht einem Wunder, nachdem die beiden Führungspersonen, Ex-Labourchef Jeremy Corbyn und die aus der Labourfraktion ausgetretene Unterhausabgeordnete Zarah Sultana, monatelang sogar per Rechtsanwalt miteinander gestritten hatten. Zwei von vier beteiligten Unterhausabgeordneten stiegen derweil wieder aus. Aber jetzt ist es soweit.
Es beginnt mit dem Hit „Ain’t No Stopping Us Now" des R&B-Duos McFadden & Whitehead aus dem Jahr 1979. Ein Dutzend Genoss:innen erheben sich enthusiastisch zum Discotanz. Zum Auftakt spricht Lucy Williams, Kommunalrätin und Krankenpflegerin. Sie betont den Kampf für Frauenrechte und wie man die lokale Labourpartei herausfordere. Dann kündigt sie Jeremy Corbyn an.
Es geht um Hoffnung, sagt Corbyn
Der 76-Jährige erscheint im grauen Jackett mit weißem Hemd. „Wir sind hier, um etwas Dramatisches zu tun, und diese Halle erscheint absolut fantastisch, um eine neue demokratische, sozialistische Partei zu gründen!“ ruft er. Es gehe um die Hoffnungen von Menschen gegen Kinderarmut, Wohnungsnot und Rassismus. „Sie hoffen, dass wir Erfolg haben und es hängt an uns, eine Massenpartei zu entwickeln.“
Die Ungleichheit in der Welt sei grotesk, auch in Großbritannien. Dann erwähnt Corbyn, dass dieser Samstag der Internationale Tag der Palästinasolidarität ist und dass 15 Prozent der nach Israel gelieferten Teile von F-35-Kampfflugzeugen britisch seien. Da verfällt die Halle in großen Beifall und ruft „Free Free Palestine“ und „From the River to the Sea“.
Es gibt kein Handbuch zur Parteigründung, mäßigt Corbyn die Stimmung. „Vielleicht sollten wir selber eins schreiben?“ Wichtig sei, dass die Struktur demokratisch sei und man sich vereine. „Ich habe genug von Oben-nach-Unten-Parteien, ich war ein Leben lang in der Labourpartei. Ich möchte das nicht in Your Party wiederholen.“ Corbyn liest aus dem Parteigründungsdokument vor: Sätze zur Umverteilung, Grundsätze gegen Unterdrückung, Schuldzuweisung an die Eliten.
Das mit der Einheit ist nicht so einfach. Während Jeremy Corbyn den Parteitag eröffnet, boykottiert Zarah Sultana – aber nur den ersten Tag, am Sonntag kommt sie dann doch. Am Samstag war angeblich Mitgliedern der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) die Mitgliedschaft und der Zutritt verwehrt worden. Sultana beschreibt dies vor laufender Kamera als Hexenjagd, „eine giftige Kultur, die wir in Labour sahen und hier nicht wiederholen wollen“.
So ganz klar ist das aber nicht. Die taz spricht mit der 28-jährigen Delegierten Zana Homji. „Ich bin seit dem Austritt aus Labour SWP-Mitglied. Die SWP lässt sich aber normalerweise nicht bei Wahlen aufstellen.“ Tatsächlich ist das Herzstück der SWP eine alljährliche Sommerwoche marxistischer und linker Seminare. „Das Gerangel ist enttäuschend“, sagt Homji über die Vorgänge in der neuen Partei. „Sie sollten das größere Ziel vor Augen haben. Was mich optimistisch macht, ist, wie viele Parteimitglieder sich von ganz weit hierher bemühten.“
Bloß nicht alle brav das Gleiche sagen
Zu Sultana spalten sich die Geister. Jene, die sie mögen, sprechen von ihrem Einsatz in Sachen Rassismus und Solidarität. Der 64 Jahre alte Anwalt Mark Pentecost aus Schottland meint: „Eine Partei wo alle brav das Gleiche sagen, würde mir nicht gefallen. Ich finde es gut, dass Leute verschiedener Meinung sind.“
Ein anderer hingegen zeigt ein Foto mit sich selbst und Sultana auf seinem Handy. „Sultana sollte auf den älteren und erfahrenen Staatsmann hören“, sagt er und meint damit Corbyn. Auf seinen eigenen pakistanisch-britischen Hintergrund verweisend fügt er hinzu: „Sie steht unter dem Einfluss wirklich extremer Linker. Die meisten Menschen meines Hintergrunds sind eher moderat links.“
Amal Biter, 28, eine Lehrerin aus London, die sich mit dem Mann unterhält, glaubt, dass das Überleben der Partei im Fokus stehen muss. „Das ist unsere letzte Chance. Als Lehrerin, die auf Lebensmitteltafeln angewiesen ist, weil das Geld nicht reicht und als Eritreerin, die in Sudan geboren ist, weiß ich, worum es geht.“
Bei Your Party tummeln sich bekannte linke Namen. Etwa der ehemalige Gewerkschaftschef Len McCluskey oder mehrere frühere Labourabgeordnete. Auch Moyra Samuels, eine der frühen Sprecherinnen von Justice4Grenfell, der Selbsthilfekampagne nach dem Hochhausbrand von London mit 72 Toten im Jahr 2017, ist da. „Die neue Partei vertritt zahlreiche Interessen der dortigen Gemeinschaft, etwa, was Sozialwohnungen und Rassismus betrifft, und Corbyn setzte sich seinerzeit stark für die Betroffenen ein“, erläutert sie gegenüber der taz.
Enttäuscht von Keir Starmers Labourpartei
Immer wieder wird Jeremy Corbyn genannt, wenn man fragt, warum jemand zu Your Party gestoßen ist. Viele waren einst unter Corbyn in die Labourpartei eingetreten oder wieder eingetreten und sind unter Keir Starmer ausgetreten. „Ich glaube an Corbyns Haltung zur internationalen Solidarität“, sagt der 58-jährige Kongolese Jean-Claude Kabuiku, der vorher bei den Grünen war. „Er ist gut im Austausch mit anderen und kann andere inspirieren.“
Ähnlich Linda Graham, 68, eine ehemalige Lehrerin aus Norfolk: „Als vielgereiste Person ist mir Corbyns Sichtweise der Welt und von Einwander:innen wichtig. Als es Probleme mit dem Mitgliedsverfahren gab, zahlte ich sogar zweimal, es war mir wichtig, sofort beizutreten.“
Die Grünen, die unter ihrem neuen Parteichef Zack Polanski einen Popularitätsschub erleben – manche Umfragen sehen sie sogar vor Labour – werden hier wohlwollend betrachtet. Viele plädieren für das Recht, Mitglied mehrerer Parteien zu sein.
Ein entsprechender Antrag wird am Sonntag mehrheitlich angenommen. Die Debatte war kontrovers: Ein Mann, der sich „Dominic aus Croydon“ nannte, sprach sich dagegen aus und attackierte SWP-Mitglieder, die einen Vergewaltigungsfall versucht hätten zu vertuschen.
Am Sonntag stimmen die Delegierten auch mit der ganz knappen Mehrheit von 51,6 Prozent für eine kollektive Führung, bei der kein Parlamentsabgeordneter den Vorsitz allein haben darf – weder Corbyn noch Sultana also soll Your Party führen. Ob der provisorische Parteiname bleibt, soll am Sonntagabend entschieden werden.
Viele nennen auch Gaza als Grund für ihr Engagement bei Your Party. In Reden wird deutlich, dass für einige der Erfolg des Sozialismus an der internationalen Solidarität für Palästinenser:innen zu messen sei. Was Antisemitismus betrifft, überschreiten manche Aussagen die Grenzen akzeptabler Wortwahl.
So verkündet eine palästinensisch-britische Aktivistin vom Podium, dass der Zionismus der Feind des Sozialismus sei. Wieder ertönt Beifall, wieder skandieren die Versammelten „Free Free Palestine“ und „From the River to the Sea“.
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