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Neue Gedichte von Thomas KunstAnmut und Randale

In „Wü“ feiert Thomas Kunst das lyrische Handwerk. Der Band versammelt Sonette auf die zerfallene Familie und poetische Briefe an eine Katze.

Zu schnell gelutscht: Im Kampf mit der „unregierbaren Spucke“ kann das Eukalyptusbonbon im Mund des lyrischen Ichs nur verlieren Foto: imago

Mit einem Eukalyptusbonbon im Mund beginnt eine Autofahrt zur neuen Arbeit. Die wohltuende Süßigkeit soll bis zur Ankunft reichen, sagt eine lyrisch-erzählende Stimme, die mit einer „unregierbaren Spucke“ zu kämpfen hat. Leider wird der Drops zu schnell gelutscht, und mit der dahinschmelzenden Bonbonfüllung verkürzen sich auch die Zeilen am Ende des Auftaktpoems.

Wie zuletzt in seinem erfolgreichen Roman „Zandschower Klinken“ beginnt Thomas Kunst auch seinen neuen Lyrikband „Wü“ mit einer automobilen Bewegung, die zugleich sensorische Verlustmeldungen und gedankliche Neuanfänge enthalten. Da ist jemand mit hoher Geschwindigkeit unterwegs, sprachlich und inhaltlich, um dann mit einer Vollbremsung wieder zur Ruhe zu kommen.

Manche Motive und Tierverweise, einige geografische und metaphorische Verortungen, etwa die Rede von den Rehen und Schwänen, erinnern an Kunsts wild-schöne Prosa, die es auf die Shortlist des Buchpreises geschafft hatte.

Ohnehin verschwimmen bei diesem Autor die literarischen Gattungen, fließt ein Buch ins nächste, wobei nichts zufällig geschieht in seinem Werk. Denn was auf den ersten Blick vielleicht anarchistisch daherkommen mag, ist zunächst perfektes Handwerk: Thomas Kunst beherrscht auch traditionelle Formen der Dichtung wie derzeit kaum ein zweiter deutschsprachiger Lyriker.

Fragile Familienverbindungen

Stand im vorangegangenen Roman ein skurril-sympathischer Freundeskreis im Mittelpunkt, der sich mit allerlei Getränken am heimisch-exotischen Dorfteich traf, um eine Utopie vom anderen Zusammenleben zu feiern, spielen im neuen Lyrikband fragile und beschädigte Familienverbindungen eine zentrale Rolle.

Das Buch

Thomas Kunst: „Wü“ Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2024, 176 Seiten, 24 Euro

Vater, Mutter, Schwester, Sohn und Tochter werden schon in den Titeln der fünf Zyklen mit jeweils 15 Gedichten erwähnt. Das lyrische Ich fährt also nicht nur zum 80 Kilometer entfernten Job, sondern übernimmt Hospital- und Heimbesuche, kümmert sich um Verwandte, die längst keine Rolle mehr spielen im gegenwärtigen Alltag.

Es beginnen Erinnerungsreisen in die familiäre Vergangenheit, die von traumatischen Erlebnissen geprägt war. Der Vater, der in den 1970er Jahren im „VEB Bau- und Montagekombinat Industrie“ malochte, machte sich plötzlich auch daheim rar, war mehr am Bett der kleinen Schwester zu sehen, während der Sohn damit begann, an den „einmal dagewesenen Eltern- / Teilen emporzuklettern, die Luft / Anzuhalten, weit über meiner / Schwester, an ihnen hoch“, und zwar an „Brust und / Gürtel“.

Die Lyrik gleicht hier einer Art Familienaufstellung, wobei der Zeilensprung stets im richtigen Moment zerschneidet, wenn die Melancholie den „Scheidungsfilm“ zu rührselig machen könnte: „Wenn Vater, noch bei Licht, zu meiner Schwester geht, gibt es für sie / Die Hand im Haar, für mich Gedichte, jeden Abend war ein / Anderer dran, ein Gute-Nacht-Gedicht, das auch ein Witz sein / Konnte, zu erzählen […]“.

Wüste aus Wünschen

Diese Zeilen in gar nicht so freien Rhythmen sind als Briefe mit Datums­angabe an eine Katze namens Wü adressiert, die mehr ist als ein tierischer Begleiter, Trostspender und „Bewegungsmelder“. Wü gilt dem Dichter auch als „eine Wüste mit Wünschen“, in der sprachlich versanden darf, was zuvor mit Präzision und Gespür fürs klassische Gedichtformat entwickelt wurde: „Musik von Gestern. / Mein Sohn hatte früher mal / Eine Kassette / Von mir unterm Kopfkissen / Meine Tochter brauchte Schlaf.“

Solche reimlosen Kurzpoeme, die sich mit 31 Moren (eine Maßeinheit für das Silbengewicht) am japanischen, über 1.300 Jahre alten Tanka orientieren, gehören zu den Höhepunkten des Bandes, der lyrische Traditionen noch in den „Hidden Tracks“ feiert, die dem fünfzyklischen Hauptteil nachgestellt sind. Ein in seiner Illusionslosigkeit besonders eindrückliches Sonett (zwei Strophen mit je vier Versen und zwei Strophen mit je drei Versen) sei daher in voller Länge zitiert:

Der Autor verliert sich nie in narziss­tischer Selbstbezüg­lichkeit: Es entsteht immer etwas Neues

„Wir haben heute Nacht nichts weiter vor. / Die Kinder sind längst aus dem Haus und staunen, / Wie sie als Elternteile ihre Launen / Zurückverfolgen mit Geschrei im Ohr. // Sie machen uns verantwortlich für das, / Was wir versuchten, das ist lange her, / Nur sind sie jetzt längst keine Kinder mehr / Und sollten uns verzeihen, dieser Hass // Gelangt in meinem Kopf als Summerton / Er langweilt mich in allen Jahreszeiten, / Lasst mich aus einer Überlegung raus. // Ich habe eine Tochter, einen Sohn. Ich habe meine Katze zu begleiten. / Solange meine Frau in diesem Haus.“

Thomas Kunst kann verrätselt und verwegen schreiben, um dann wiederum mit Klarheit und Deutlichkeit zu beeindrucken. Auch wenn seine Bücher – Prosa und Lyrik gleichermaßen – über Motivketten verbunden sind, steht jedes Werk doch für sich, verliert sich der Autor nie in narzisstischer Selbstbezüglichkeit: Es entsteht immer etwas Neues.

Verneigung vor Klabund

Kunst ist zudem ein Dichter, der gerne weitergibt, wer oder was ihn inspiriert hat. Der 1965 geborene Schriftsteller, der auch als Bibliothekar arbeitet, verneigt sich beispielsweise vor Klabund, dem vagabundierenden Poeten aus dem frühen 20. Jahrhundert, der ein Seelenverwandter Kunsts zu sein scheint.

Durchaus lohnend, die Musikstücke, die im Anmerkungs­apparat von „Wü“ aufgelistet sind und die für Kunst „beim Schreiben unabdingbar“ waren, einmal nachzuhören, wie etwa die hypnotischen Kurztracks der Band „Idaho“ vom Album „The Lone Gunman“. Doch selbst wenn man sich auf den mitgelieferten Begleitsound einlassen möchte, die Dichtung überzeugt auch ohne akustischen Verstärker: Manche Sonettenkränze haben das Zeug zum modernen Klassiker, sollten in der Schule gelesen werden.

Die großen Themen zeitgenössischer Dichtkunst werden nahezu nebenbei behandelt: Stadt-Land-Kontraste, Naturzerstörung, Identitätssuche in der verwalteten Welt. Das lyrische Ich geht auf „Tierspaziergänge“ in ostdeutschen Gefilden, träumt sich zugleich an ferne Meeresküsten „am Golf von Mexico“, die aber eher als Metaphern zu gelten haben.

In einem völlig ideologiefreien Sinn ist Kunst ein Heimatdichter, der Ruhe und Frieden auf dem Lande sucht. Mit Anmut beschreibt er die Sehnsucht, sich in Kriegszeiten endlich mit der Schwester zu versöhnen, wieder gemeinsam durchs „hohe Gras zu gehen“. Kunst besingt Vögel, Würmer und allerlei Gehölze.

Doch er kann auch metalyrische Randale: „Es gab zuletzt das Beispiel eines Falles / Von Poesie in meinem Heimatland. Der Jubel zeigte, was ich nicht verstand: Familienfotos sind am Ende alles. // Ich glaube an die Macht von Kinderbildern. / Die Früchte auf dem Tisch sind nicht von hier. / Die Unterschiede zwischen Schnaps und Bier / Sind Ungereimtheiten, die schnell verwildern. // Wir lenken unser Augenmerk auf Knaben / Im Vordergrund wird Herkunft ausprobiert. / Das Küchenlicht gehört zu den Metallen. // Es ist nicht hilfreich, Hoffnungen zu haben, / Wenn neben dir Folklore explodiert / Und Aschefähnchen auf Gedichte fallen.“

Zahnlos jubelnde Literaturkritik

Gegenüber der liebsten Wü wird die Dichterstimme noch polemischer, beklagt eine Sprache „der reaktionären Mobilmachung / Traditionell vertraulicher Befindlichkeiten und einer zu / Anekdotischem Pendelverkehr zwischen Autor und Publikum aufbereiteten Erzählweisen“, kritisiert die Posen „harmlos-kritischer Welt-Anrufungen, vorbei an einer / Zahnlosen jubelnden Literaturkritik“.

Im Lyrikbetrieb, der sich gerne vornehm gibt, mögen solche Vorwürfe nicht gut ankommen. Ein Rezensent, der auch als Hobbydichter unterwegs ist und zuweilen arg an den besprochenen Büchern vorbeischreibt, wie unlängst die Literaturwissenschaftlerin Anna Bers in einer mehrseitigen Analyse nachwies, fühlte sich wohl angesprochen und konterte in der Frankfurter Rundschau mit einer Herablassung, die im Gestus altväterlicher Rhetorik etwas Lächerliches aufzeigen soll und dabei selbst ziemlich töricht wirkt: „So so, dieser Zorn musste offenbar dringend hineingebrüllt werden in eine seichte und ach so verlogene Kulturindustrie, Ausrufezeichen!“

Thomas Kunst sucht nach den „Schmutzrändern“ der „Intellektualität in Texten“, und er besteht zugleich auf eine handwerkliche Qualität, die „kein Relikt aus anderen Jahrhundert ist“. Darüber kann sich nur lustig machen, wer als vermeintlicher Lyrikexperte jede Zeile danach absucht, ob sie „welthaltig“ und „kraftvoll“ ist oder noch besser: eine passende politische Botschaft enthält.

Gegen solch verschmocktes Gehabe wendet sich Kunst, der noch in der Litanei einfallsreich und selbstironisch ist. Im Schlussgedicht lädt der Dichter zu einem Festival des lyrischen Übermuts in die Provinz ein, das nicht in gediegener Atmosphäre einer Stipendienvilla, sondern auf roter Asche stattfinden soll: „Wir bereiten den Kongress vor, ich halte den Tennisplatz / Sauber, falls die Verstorbenen kommen, Eigner, Meckel, / Böhmer, Neumann, Salvatore, nur Männer, ich weiß, / Aber die Dichterinnen, die ich liebe, leben noch.“

Zu der obskuren Lyrikfeier auf dem Lande, auf der „sich zu Orgien auswachsenden, sprachlichen Reinlichkeits-Übertretungen“ gehuldigt wird, würde man gerne anreisen, mit einem gefüllten Päckchen Eukalyptusbonbons in der Tasche.

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