Neue Bücher über die Folgen der Wende: Kluge Köpfe zum Erzählen ermächtigt
Kowalczuk und Mau sind ostdeutscher Herkunft. Sie gehen der Frage nach, wie aus dem Momentum des Aufbruchs ein Gefühl des Scheiterns werden konnte.
Als vor kurzem Sigmund Jähn starb, entbrannte medial eine hitzige Debatte darüber, ob der erste Deutsche im All und einstige Generalmajor der Nationalen Volksarmee überhaupt zum Helden tauge. Im Ostberliner Roten Rathaus war gerade erst das Kondolenzbuch für den – fast ausschließlich im Osten prominenten – Verstorbenen ausgelegt, da schrottete der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk mit einem grimmigen Text im Tagesspiegel das zart erblühende Wirgefühl.
„Sigmund Jähn verkörperte das DDR-System“, schrieb Kowalczuk. Deshalb tauge der – als Person zweifellos bescheidene, als propagandistische Erzählfolie jedoch stets zu Diensten gewesene – Mann nicht zum Vorbild. Im Gegenteil, Jähn sollte vielmehr „als Anschauungsbeispiel dafür dienen, dass sympathische, leise, bescheidene Menschen trotzdem eine menschenverachtende, laute, gewaltvolle Diktatur stützen und verteidigen können“.
Es war ein klassischer Kowalczuk-Text: meinungsstark, pointiert, faktengesättigt. Dieser publizistische Angang, das Politische stets auch persönlich zu spiegeln und zu brechen, eignet in diesem Wendeherbst-Jahr gleich zwei aktuellen Sachbüchern. Mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ zieht Ilko-Sascha Kowalczuk eine sehr lesenswerte Bilanz, was in diesen Wendewirren tatsächlich passiert ist. Und er geht der Frage nach, auf welche Weise sich der Osten bis heute vom Westen unterscheidet und warum zwischen Suhl und Saßnitz Populisten und Extremisten so erfolgreich sein können.
In zwölf Kapiteln schreitet Kowalczuk die Bereiche des Umbruchs ab: vom „Letzten Jahr der DDR“ über „Die soziale Katastrophe“ Anfang der Neunziger, den Elitenaustausch, die Abwanderung bis hin zum „unverstandenen Osten“. Er schmeichelt niemandem, leistet sich widersprüchliche Haltungen und Gefühle und unterlegt das Behauptete mit unzähligen Fakten.
Frustrierter Zufriedener oder glücklicher Enttäuschter
Das zweite Buch kommt von dem Rostocker Steffen Mau. In „Lütten Klein“ beschreibt der Soziologe das „Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Der 50-Jährige begnügt sich nicht mit der ja im Grunde hinlänglich bekannten Geschichte des Mauerfalls und der Schilderung jener Umbrüche, Einschnitte und Verletzungen, die den Ostdeutschen mittlerweile als „Lebensleistung“ in Rechnung gestellt werden und die ihnen das Gefühl vermitteln mögen, sie hätten damals, 1990, schon die richtige Entscheidung getroffen. Nein, Mau zieht das Bild deutlich größer.
„Die Bilanz der Einheit“, schreibt er gleich zu Beginn, „ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch widersprüchlich. Selbst Individuen wirken oft innerlich gespalten, wenn man sie auffordert, ihre persönliche Situation zu schildern – manch einer entpuppt sich gar als frustrierter Zufriedener oder als glücklicher Enttäuschter.“
Ebenso wenig, das stellt er klar, wolle er sich an jenem Schulterklopfen beteiligen, „dem sich alle Jubeljahre die Führungskräfte dieses Landes hingeben und dabei übersehen, dass viele Probleme in Ostdeutschland nicht nur Erblasten des Staatssozialismus sind, sondern im Zuge der Vereinigung und Transformation reproduziert, verstärkt oder gar hergestellt wurden“. Wäre der umstrittene Sigmund Jähn nicht vor Erscheinen von „Lütten Klein“ verstorben, läge die Idee nahe, auch Mau unternehme hier den Versuch, die Widersprüchlichkeit des realsozialistischen Menschen an dessen Person zu erklären.
Politische Teilhabe unerwünscht
Die DDR, darauf besteht Mau und das belegt er auch, war demnach nicht nur ein repressives Land, dessen BürgerInnen am Ende dieses 40 Jahre währenden Sozialismusprojekts mehrheitlich in nischenbasierte Lethargie verfallen waren. Politische Teilhabe war bis zum Oktober 1989 weder erwünscht noch führte sie zu Veränderungen. Aber die DDR war eben auch für jene, die dort gelebt haben, eine Gesellschaft weitgehender Unterschiedslosigkeit.
Das Gleichsein wurde dann nach dem Fall der Mauer sozial, kulturell und marktwirtschaftlich in sein glattes Gegenteil gedreht. Der Osten – in dem der Bezirksparteisekretär neben der Krankenschwester wohnte, der hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter im selben Haus wie der Pfarrer – sei durch die deutsche Einheit zu einer „fraktionierten Gesellschaft“ geworden. Leute, die erfahren hatten, dass Geld nicht die entscheidende Rolle spielt in ihrem Leben, waren plötzlich angehalten, sich als fitte Marktteilnehmer zu verstehen.
Der ganze historische Vorgang war zugleich verstärkt von unzähligen Endpunkten, ökonomischen und damit immer auch persönlichen Niederlagen. Treuhand, Management-Buy-out, Übernahmen – man kennt die Geschichten. Aber will man sie noch hören? Ist es nicht mal gut langsam? Nein, ist es nicht. Mau erklärt, warum das Vergangene nicht vergehen kann, solange es in eine gespaltene Gesellschaft führt.
Ilko-Sascha Kowalczuk: „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, C. H. Beck, München 2019, 319 Seiten, 16,95 Euro
Der Ort, an dem Steffen Mau sein Stück DDR erfahren hat, heißt Lütten Klein. Das Neubauviertel in Rostock ist ein betongewordenes Zeugnis dieser Idee von Gleichheit und Fürsorge durch einen Staat, von dem seine Gründer gehofft hatten, jeder und jede würde sich ihm anvertrauen wollen. Lütten Klein ist eine jener am Reißbrett entworfenen Idealstädte, in denen Arbeit und Leben der sozialistischen Menschengemeinschaft ihren Platz finden sollten. 26.000 Menschen lebten dort, heute sind es noch 17.000.
Man hat die Namen dieser mittlerweile mitunter als Unorte begriffenen Städte im Ohr: Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt, Schwedt an der Oder, Halle-Neustadt. Es sind heute Gegenden, die mit ihrem harten Image zu kämpfen haben – Mau verwahrt sich ausdrücklich gegen abfällige Bezeichnungen wie Platte, Fickzelle, Arbeiterschließfach. Zu ihrer Zeit waren die Neubaugebiete gelebte Moderne für arbeitende Menschen mit Kindern und Interessen. Heute werden dort die sozialen Ränder vermutet – was nicht zwangsläufig stimmt. Schon gar nicht in einer Stadt am Meer wie Rostock.
Steffen Mau: „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 284 Seiten, 22 Euro
Mau ist in Lütten Klein zur Schule gegangen, er hat dort seine Kindheit und Jugend verbracht, in den achtziger Jahren nahm ihn ein Freund mit zu einem Gottesdienst, den ein gewisser Joachim Gauck abhielt. Und als die Zeiten unruhig wurden, schob Mau als NVA-Soldat Wache vor der Kaserne in Schwerin. Mittlerweile ist er Professor an der Humboldt-Universität in Berlin.
Auch Ilko-Sascha Kowalczuk hat es beruflich geschafft. Geboren 1967 in Ostberlin, gehört er jener Generation an, die durch das Ende der DDR tatsächlich befreit worden sind. Viele in den sechziger Jahren geborene Ostdeutsche sind Nutznießer dieser historisch einmaligen Situation. Sie sind es auch, die authentisch Kunde tun können vom Gewesenen und Erfahrenen.
Auch wenn sich drei Jahrzehnte danach manche Erinnerung verschoben, verdunkelt oder vergoldet haben mag – diese Gesellschaft muss eine respektable sein, die kluge Köpfe wie Mau und Kowalczuk nicht nur hervorgebracht, sondern auch zum Erzählen ermächtigt hat.
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