Nationalfeiertag in Belarus: Schlagstöcke und Wasserwerfer
Die Belarussen fragen sich, was in diesem Jahr am 25. März passieren wird. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 71.
I n der vergangenen Woche rief die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja auf YouTube zu einer landesweiten Abstimmung über die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Regime auf, um die Krise in Belarus mit internationaler Vermittlung zu beenden. Die Abstimmung findet auf der Plattform „Golos“ (Stimme) statt, deren Daten sie der EU, den USA, der OSZE und weiteren internationalen Oranisationen anvertrauen will. Mit dieser Ankündigung will sie den internationalen Partnern ein Signal geben, um aktiv zu werden und die Belarussen eines Gefühls von Einheit, Kraft und Übermacht auf den Straßen zu versichern.
Meine Kollegin, ebenfalls Journalistin, meint dazu: „Angesichts dieser Zahnlosigkeit und Naivität verspüre ich reichlich Schadenfreude, doch dabei kommt mir ein Gedanke. Für den Westen ist das ein Muster, wenn alle möglichen Wege eingeschlagen werden. Dann heißt es ein Häkchen machen und irgendwelche anderen Mechanismen auslösen. Vergessen wir nicht die jünsten Erklärungen von US-Präsident Joe Biden und de Auftritt von Tichanowskaja im US-Kongress. Ich nehme mal an, dass sie nicht einfach gekommen und wieder gegangen ist. Augenscheinlich gab es irgendwelche Beratungen oder Zusagen.“
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Allein in den ersten zwei Stunden gaben in den Chat-Bots der Plattform 170.000 Personen ihre Stimmen ab. Die Geschwindigkeit, mit der die Nachrichten gleichzeitig eintrafen, überstieg auf dem Höhepunkt die Werte einer Volksbefragung vom vergangenen August um das Dreieinhalbfache.
Dabei gilt es zu verstehen, dass eine Manipulation der Ergebnisse (so wie das die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Lidia Jermoschina gemacht hätte) ausgeschlossen ist. Abstimmen kann nur, wer eine in Belarus registrierte Mobilnummer hat und das dann auch nur einmal. Naja, man kann sagen, dass diese Stichprobe nicht sehr repräsentativ ist, da die Errungenschaften des Fortschritts einen großen Teil der Bevölkerung, wie zum Beispiel die Rentner, noch nicht erreicht hat. Doch die Praxis hat gezeigt, dass derartige Aktionen einen Austausch und Erkenntnisgewinn bei Kindern und Enkeln sogar der konservativsten Großväter und Großmütter provozieren.
ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.
Die ersten Ergebnisse – sie werden zeigen, wie viele Belarussen eine Lösung der politischen Krise in ihrem Land wollen – werden am Freiheitstag, dem 25. März, bekannt gegeben. Dieses Datum ist sehr bedeutsam, denn an diesem Tag wurde 1918 die Unabhängige Belarussische Volksrepublik ausgerufen. Diesen Tag begehen die Anhänger oppositioneller Parteien jedes Jahr wie ein Volksfest – mit Aktionen, Kundgebungen und Märschen.
2018, zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Belarussischen Volksrepublik, gab die Staatsmacht offiziell grünes Licht für eine Kundgebung und ein Konzert im Zentrum der Hauptstadt Minsk. Und sie übernahm die Kosten für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, medizinische Versorgung, Aufräumarbeiten während und nach der Veranstaltung sowie für Bio-Toiletten. Angaben von freiwilligen Helfern zufolge kamen an diesem Tag 50.000 Besucher.
Wie der Freiheitstag in diesem Jahr ablaufen wird, darüber rätseln die Belarussen in den sozialen Netzwerken. Den Propagandisten des staatlichen Fernsehens nach zu urteilen, erwartet uns alle ein Treffen mit Vertretern des Sicherheitsapparates, denn a priori sind wir Protestierende, die nicht mal eben nur an der frischen Luft spazieren gehen.
Doch davon abgesehen: Am 10.März nahm die Miliz in sozialen Netzwerken „aktive Schriftsteller“ fest – Menschen mit einer eigenen politischen Position. Sie alle erhielten eine 15tägige Arreststrafe, um sie daran zu hindern, am 25. März in die Stadt zu gehen. Diese Aktionen des Regimes kann man als Bürgerkrieg gegen das eigene Volk bezeichnen, zumal Alexander Lukaschenko die Armee zur Unterdrückung der Proteste heran gezogen hat.
Alles ist darauf ausgerichtet, die Menschen daran zu hindern, sich zu versammeln, die Welle schon vorher zu brechen. Meine Journalistin-Kollegin sagt:“ Früher habe ich mich nicht gefürchtet zur Arbeit zu gehen. Jetzt jedoch habe ich Angst, dass sie einen sofort mitnehmen.“
Schon heute ist vorhersehbar, dass es Schlagstöcke und Wasserwerfer geben wird und die mobilen Telefonverbindungen abgeschaltet werden. Sie wollen uns schnell auseinander treiben, festnehmen, 30 Tage Arrest verhängen. Und denjenigen, die nicht zum ersten Mal dabei sind, droht, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Ich möchte fragen: Vielleicht ist es besser, von Aktivitäten auf der Straße Abstand zu nehmen? Marina, Mutter zweier minderjähriger Kinder, sagt dazu: “Wir müssen alles tun, was machbar und möglich ist. Wir gehen heraus. Vielleicht werden wir wenige sein, vielleicht nichts erreichen. Aber wir gehen hinaus.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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